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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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zu sein. Ich sehe ihn an, er ist dünn,
seine Lippen sind dunkel. Ein langer Bart, den ich an ihm nicht kenne, reicht
ihm bis zu den Augen hinauf. Es fällt mir schwer, ihn zu berühren, ihn
wiederzuerkennen. Sein Gesicht sieht so aus wie die Häuser draußen.
    Ich lächle, sage ihm,
dass er ein bisschen riecht. Dabei habe er geduscht, mit der Gießkanne, im
Sarajevo-Stil, sagt er.
    Er hat etwas von
einem Tier in Gefangenschaft. Von den toten Pavianen im Zoo.
    Ich nehme seine Hand,
wir ziehen uns in eine Ecke zurück. Die Wohnung ist dunkel, die Fenster sind
verhängt, die Wände haben lange Risse.
    »Wie schaffst du es
nur, hier zu leben.«
    Er klammert sich an
meine Hand, stößt sein Gesicht hinein. Er bleibt so, um mich zu wittern, sich
zu reiben, sich alles zu holen, was ihm von mir gefehlt hat.
    Er sieht mich fest
an. Doch seine Augen sind zwei fremde Sümpfe. Plötzlich denke ich, dass er gar
nicht hier ist und dass er nicht mich sucht, sondern etwas, das nicht mehr da
ist.
    »Mein Liebes …«
    Wir berühren uns wie
zwei Wiederauferstandene.
    Er schenkt mir einen
Strauß Papierblumen.
    Die Blumenhändlerin
vom Markale, dieses alte Weiblein, das wie eine gute Hexe aussieht, hat keine
echten Blumen mehr, die sie verkaufen könnte, weshalb sie sich diese Blümchen
ausgedacht hat. Sie faltet sie aus Papierfetzen und bemalt sie dann. Ich sehe
sie mir an, sie sind bildschön und tieftraurig. Mir geht durch den Kopf, dass
Diego Ähnlichkeit mit diesen Papierblumen hat, die die Sehnsucht nach Farben,
Duft und Leben in sich tragen.
    Er hat großen Hunger,
ich öffne den Koffer, meine Schatztruhe. Er beißt in einen Pfirsich, der Saft
läuft ihm über das Kinn.
    Dann brechen die
anderen hervor, Ana, Mladjo und Gesichter, die ich noch nie gesehen habe,
Menschen aus zerstörten Häusern, Flüchtlinge aus den besetzten Vierteln. Ich
packe meine Kostbarkeiten aus. Man fällt mir um den Hals, umarmt mich fest. Als
würden wir uns seit jeher kennen. Hvala Gemma, hvala . Und den ganzen Tag über kommen immer
noch mehr Leute. Hier steht dieses Paket, dieser Koffer voller Dinge, die
verteilt werden können, und so ist diese Wohnung heute so etwas wie die
Benevolencija. Wir feiern, öffnen die Fleischkonserven und die Mixed Pickles
und essen Parmesan. Gojko spendiert eine Flasche Rakija aus seiner kleinen
stillen Reserve.
    Ich gehe zum Fenster,
schiebe die Plastikplane beiseite und dränge mich in diesen Spalt. Die Stadt
ist im Dunkel gefangen, ausgehöhlt wie ein Bergwerk, in dem es nichts mehr zu
fördern gibt, da sind nur noch Löcher und verlassene Stollen. Die auslöschende
Dunkelheit lindert. Ich erkenne nichts als den hellen Stumpf eines
abgebrochenen Minaretts.
    Wo sind die
Geräusche? Der Glockenschlag, das Rufen des Muezzins? Wo sind die Gerüche? Der
mehlige des Kaffeesatzes? Der scharfe der Gewürze und der Ćevapčići? Wo ist der Autosmog? Wo ist das
Leben?
    Intimität gab es
nicht mehr. In dieser Wohnung wie in jeder anderen in Sarajevo schliefen alle
zusammen, die Matratzen im Flur zusammengeschoben, weit weg von den Fenstern, von
den Stellen, die dem Feuer der Granatwerfer und Kanonen am stärksten ausgesetzt
waren.
    Ich war die Einzige,
die zusammenzuckte, alle anderen schienen abgestumpft zu sein oder hatten
womöglich das Gehör verloren. Ich sah eine Reihe von Augen im düsteren Licht
selbstgemachter Kerzen, dieser Schnurstückchen, die in Wasserschalen mit einem
Tropfen Öl auf der Oberfläche schwammen. Alle rauchten die Zigaretten, die ich
mitgebracht hatte und die wohl das willkommenste Geschenk waren, denn Nicht zu essen ist hart, doch nicht zu
rauchen ist die Hölle , und mittlerweile rauchte man alles, Teeblätter und Kamille, Stroh
vom Feld und von den Stühlen. Ana hatte einige Päckchen Damenbinden in ihrer
Türkentasche verstaut und presste sie sich nun auf den Bauch wie ein Kissen.
Ich betrachtete diese Augen, so fremd wie die von Tieren, die uns in der
Dunkelheit anschauen, und diese Münder, die an den Tabakstengeln zogen und sie
aufglühen ließen.
    Es waren die gleichen
Augen, die auch Diego hatte, fiebrig, in einer stummen Starrheit gefangen. Sie
schienen alle in denselben Tümpel zu schauen, in einen trüben Spiegel, der
nichts reflektierte.
    »Wie geht es dir?«
    »Gut, ja …«
    Meine Worte schienen
ihn nur aus weiter Ferne zu erreichen, wie ein Echo. Er hatte eine Hand gehoben
und war mit den Fingern über meinen Mund gefahren, als wollte er seine
Festigkeit spüren. Er schob seine

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