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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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sie noch ernähren zu können.
    Dann das Morgengrauen.
Manchmal werden wir nicht von den Geschützen geweckt, sondern vom Gezwitscher
zurückkehrender Vögel. Dann denken wir, dass es ein Ende haben könnte.
    Dass die Überlebenden
die Stadt verlassen und zu den Bergen der Jahorina, auf den Trebević, hochkraxeln könnten, um dort ein
Picknick zu machen oder Pilze zu sammeln.
    Dass die Straßenbahn
Nummer eins ihren Betrieb wiederaufnehmen könnte, bis Ilidža, bis zu den Wasserfällen, bis zu den Wiesen.
    Es ist unglaublich,
dass bei Tagesanbruch all diese Menschen auftauchen, man fragt sich, wo sie
sich versteckt hatten und ob sie wirklich leben oder ob sie von den Toten
auferstanden sind. Niemand bleibt zu Hause, man muss hinaus auf die Jagd nach
Essen, nach Wasser, nach Schwarzmarktschnäppchen, nach Bezugsscheinen für Brot,
nach Konserven aus den Hilfslieferungen. Man macht die Runde und klopft bei der
Caritas an, bei der evangelischen Kirche und bei der Benevolencija der Juden,
die am großzügigsten sind und allen helfen. Sie helfen auch den Moslems von
Sarajevo, die wiederum ihnen schon geholfen haben, damals, als sie sie vor den
Nazis versteckten. So bringt man die ersten Stunden des Tages zu. Bleibt man zu
Hause, stirbt man.
    Jedes Mal, wenn
Velida die Wohnung verlässt, sagt sie: »Ich geh dann mal.« Sie hält inne und
lächelt.
    »Meiner Granate
entgegen.«
    Von Zeit zu Zeit
bricht jemand zusammen. Eine Frau, die nach Wasser ansteht. Ein Kaninchen.
    Man darf nicht stehen
bleiben und hinschauen, darf den Augen keine Zeit lassen, zu sehen und Anteil
zu nehmen. Das muss man lernen. Den Toten nicht die Zeit zu geben, sich zu
offenbaren und real zu werden, man muss unbeirrt weitergehen, darf einen
Leichnam nicht von einem Sandsack unterscheiden, man muss sie unterschiedslos
hinter sich lassen, muss sie von der Wahrheit entfernen und darf nur auf den
eigenen Weg achten. Nur so kann man durchhalten. Indem man den Toten keinen
Namen gibt, keinen Mantel und keine Haarfarbe. Man muss sie liegen lassen.
Lernen, ihnen schon von weitem auszuweichen, und so tun, als hätte man sie
nicht gesehen. So tun, als gäbe es sie nicht.
    Denn wenn man
innehält, wenn man sich für sie öffnet, verlangsamt man unausweichlich seinen
Schritt.
    Die Kinder aber sind
neugierig, sie recken den Hals und schauen hin, während ihre Mütter sie
wegreißen und weiterziehen. Die Kinder laufen zu den Toten wie Eichhörnchen zu
den Resten eines Picknicks.
    Trotzdem setzt diese
Stadt, in der unablässig gestorben wird, eine verborgene Kraft frei, einen
Lebenssaft, der wie aus der Tiefe eines Waldes aufsteigt.
    Gojko holt mich ab,
und ich kann Sebina wieder in die Arme schließen. Sie kommt mir vor wie eine
Schildkröte, ihr Gesicht verdorrt, dreieckig, der Mund wie ein Strohkringel.
Ich drücke sie an mich. Wir stehen an der Tür der noch immer unglaublich ordentlichen
Wohnung. Ich spüre ihren Kopf an meinem Bauch.
    »Warum bist du noch
hier, Bijeli
biber? «
    Sie will nicht in
einen Konvoi einsamer Kinder.
    Sie erhält Briefe von
ihren Freunden, die weggefahren sind, und alle scheinen ihr trauriger zu sein,
als sie es ist. Sie sagt, ihr Zimmer stehe noch, und alles in allem gehe es
ihnen gar nicht so schlecht. Gojko komme fast jeden Tag vorbei, es fehle ihnen
an nichts. Nur dass ihr Reis und Makkaroni schon zum Hals heraushingen.
    »Und dann noch dieser
Gestank!« Sie lacht.
    Das sind die Dosenmakrelen
aus den Hilfslieferungen, diesen Gestank findet man jetzt in jeder Wohnung, in
jedem Rülpser von Leuten, die so viel Glück haben wie sie.
    Sie erzählt, an den
Alarm und an den Keller hätte sie sich inzwischen gewöhnt. Ich habe ihr etwas
Schokolade mitgebracht, sie lutscht sie und verschmiert sich den Mund.
    Sie trainiert nicht
mehr, die Turnhalle ist ein Schlafsaal für Flüchtlinge. Und nach all der
Begeisterung ist ihre Stimme nun belegt. Doch sie weint nicht, sie verzieht das
Gesicht und zuckt mit den Schultern. Dann macht sie einen Handstand, stützt sich
an der Wand ab und läuft auf den Händen weiter, wobei ihr Haar den Boden
berührt. Ihr Rock ist zu einer schlaffen Blumenkrone zusammengerutscht, und ich
sehe ihre fleckigen Beine, ihre Kniescheiben, die Äderchen, die unter der Haut
aufscheinen, und ihr geblümtes Unterhöschen. Sie kommt zu einer Brücke auf den Boden
zurück, ihr Rücken verbiegt sich wie der eines Schlangenmenschen.
    »Du wirst dir noch
wehtun.«
    Jetzt reißt sie die
Beine zu einem tadellosen Spagat

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