Das schönste Wort der Welt
hin, unterhält sich mit ihnen. Wühlt in seinen Taschen und verschenkt, was
er hat. Oft lässt er sich anspringen, lässt sich ins Gesicht und in die Haare
fassen, nimmt sie auf die Schultern und wird auch dann nicht wütend, wenn sie
an seine Objektive gehen.
Mich fotografiert er
auch, vor dem Krater der Bibliothek.
Er sagt: »Stell dich
dort hin.«
Ich frage mich, ob er
mich noch liebt oder ob ich nur ein Gespenst aus seinem früheren Leben bin.
Unablässig ist sein Kopf in Bewegung, oft dreht er sich um und wirft einen
Blick in die Runde. Wen sucht er?
Auch die Bey-Moschee
wurde getroffen. Diego fotografiert die Gläubigen, die im Morgengrauen vor dem
Trümmerhaufen beten, auf ihren Teppichen kniend, die klein wie Bettvorleger sind.
In der Tito-Allee gibt es eine mit Schreibmaschine getippte Liste der Toten,
sie wird nachts aufgehängt. Die Leute bleiben stehen, lesen und senken den
Kopf.
Wir gehen in eine
Kafana, in einen kahlen Raum, dessen Tische weit weg von der Straße
zusammengerückt sind. Auf der Theke nur ein paar dunkle Gebäckkringel. Aber es
gibt den starken und kräftig zu etwas Schaum gerührten Nescafé, den man auch
für einen italienischen Espresso halten könnte. Drina-Rauch liegt in der Luft
und das Geschrei betrunkener Männer in selbstgeschneiderten Militäruniformen,
Milizsoldaten einer zusammengewürfelten Armee, Kriegshelden und alte Halunken,
die zu Lokalkommandanten aufgestiegen sind. Auch eine reglose Frau sitzt da,
mit dem Ellbogen auf dem Tisch, das Gesicht in die Hand gestützt. Sie verharrt
in dieser Haltung, die ihre Gesichtszüge verzerrt, ihre Nasenlöcher weitet,
ihre dunklen Zähne bloßlegt und ihr ein Auge verschließt. Sie scheint nichts
von dem, was um sie her vorgeht, wahrzunehmen. Vielleicht ist sie hier, um
einen Schrecken zu verwinden.
Vielleicht hat ein
Schmerz sie zerschnitten.
Bestürzte Frauen.
Alte Männer wie Statuen. Wir trinken Nescafé. Ich frage Diego zum x-ten Mal,
was für einen Sinn es hat, noch länger zu bleiben.
»Warum sind wir hier?«,
frage ich.
Wozu diese
Sinnlosigkeit? Diese Bestrafung?
Er antwortet nicht,
leckt den Kaffee bis zum letzten Tropfen auf. Seine Zunge ist weiß, belegt wie
meine.
»Ich habe dich nicht
darum gebeten herzukommen.«
Später, im
Schlafzimmer, als wir nichts zu essen haben, weil wir uns nicht darum gekümmert
haben, und unser Magen grün und sauer ist, kommt Diegos Stimme in der
Dunkelheit zu mir:
»Fahr nach Italien
zurück, meine Liebe.«
Es regnet, der Himmel
tropft, zerfasert. Die ganze Nacht über hat es gedonnert und geblitzt, das
Krachen der Natur hat sich mit dem der menschlichen Bosheit vermischt. Ich habe
lange wach gelegen und diesem Wettstreit am Himmel zugehört, es klang, als wäre
Gott ungehalten und hätte seine ganze Wut in diesen, seinen, Himmel gelegt,
indem er die Mündungen der Kanonen, der Granatwerfer, der auf den Boden
gerichteten Flakartillerie und die Schützengräben unter Wasser setzte.
Wahrscheinlich gibt es da oben in den Bergen nur noch Schlamm. Vielleicht
werden die Bäume des Waldes dieser Überschwemmung nicht standhalten, und die
Erde wird wie Jauche zu Tal gleiten und die Gärten und Häuser der
Sandschak-Beys, der Provinzstatthalter, wegspülen.
Der Regen trommelt
gegen die Fensterplanen, dieser entsetzliche Lärm hält schon seit Stunden an. Es
ist kalt, die Jahreszeit wird immer unwirtlicher, die Wände, die bis zur Decke
hoch vor Rissen starren, schützen uns nicht mehr. Es riecht muffig und nach
schmutziger Wäsche. Diego hat sich unter den Bettüchern zusammengerollt, der
Kopf zugedeckt, die Füße nackt und gelb. Die Gasflasche unseres Campingkochers
ist leer, sie hat einen letzten blauen Hauch von sich gegeben, eine Flamme, die
noch einen winzigen Augenblick brannte, bevor sie sich nach oben verflüchtigte
wie eine ausgehauchte Seele. Ich gehe in die gemeinsame Küche hinunter, um
Kaffee zu holen. Velida steht draußen Schlange, ihre Beine sind bis zu den
Knien nass, in der Hand hält sie einen emaillierten Krug. Sie erschrickt und
zuckt zusammen, der Krug fällt herunter.
»Es ist ein
Donnerschlag, es ist nur ein Donnerschlag«, beruhige ich sie.
Ich bücke mich und
gebe ihr den Krug, der jetzt an zwei Stellen angeschlagen ist, sodass das Eisen
hervorschaut.
»Schon wieder was
kaputt.« Sie lächelt.
Auch sie hat einen
merkwürdigen Geruch. Den Geruch der Einwohner von Sarajevo. Er kommt nicht nur
vom fehlenden Wasser, denn heute waschen wir uns mit Regen, er
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