Das schönste Wort der Welt
kommt von der
Erschöpfung und der Panik, die vom Körper ausgeschwitzt werden. Der Geruch des
Vortodes. Wie der von aufgeschreckten Tieren, die plötzlich einen
unerträglichen Gestank absondern, um sich zu schützen. Es sind aus dem Lot
geratene Körper, verdorbene Mägen von Menschen, die Gras essen und nicht
schlafen und mit der Gewissheit aus dem Haus gehen, dass sie sterben werden.
Es regnet auf die
kleine Menschenreihe im Hof. Zitternde Frauen in triefnassen Latschen.
»Sieh nur, was aus
uns geworden ist.«
Velida kann an diesem
Morgen getrost weinen, denn es regnet so stark, dass niemand ihre Tränen
bemerkt. Eine Frau in der Reihe drängelt, Velida tritt zur Seite und lässt sie
vor. Dann überlässt sie ihr auch noch ihre Milchration, die der Händler wer
weiß wo aufgetrieben hat, schon seit Monaten ist keine richtige Milch mehr zu
bekommen. Ich rege mich auf, sage ihr, sie sei zu dünn, um sich so viel
Großzügigkeit leisten zu können. Sie aber will nicht zum Tier herabsinken und
sperrt sich gegen diesen Kampf unter Hungerleidern.
»Sie hat Kinder«,
sagt sie. »Ich habe nur den Tod.«
Sie schaut auf, die
nassen Haare lassen die Kopfhaut durchschimmern, sie sind triefende
Wollbüschelchen.
»Ich kann ihn jetzt
sehen, bis vor kurzem habe ich ihn noch auf Distanz gehalten, doch jetzt ist er
hier, ich habe ihn hereingelassen, er setzt sich zu mir in die Küche, schaut
mich vor den erloschenen Feuerstellen an und leistet mir Gesellschaft. Er fordert
mich zum Tanz auf. Heute Nacht trug er meine italienischen Schuhe, die von der
Hochzeitsreise, die kamelhaarfarbenen, die an der Ferse offen sind.«
Ich komme mit etwas
Kaffee wieder nach oben. Diego ist schon startklar, er trägt eine leichte, rote
Regenjacke, die am Rücken zerrissen ist.
»Wo willst du hin?«
Er hält es nicht aus,
zu Hause zu sitzen, der Regen macht ihm nichts aus, er gefällt ihm sogar.
Den Riss in der Jacke
hat er mit zwei Streifen weißem Klebeband repariert, dem aus unserem
Verbandszeug im Schuhkarton.
Mit diesem Kreuz auf
dem Rücken geht er los. Ich sage ihm, dass er eine ideale Zielscheibe abgibt.
Er zuckt mit den Schultern und lächelt. Bis vor kurzem hätte ich mich an ihn
geklammert, um ihn aufzuhalten, doch ich habe keine Kraft mehr. Er ist ein
Fatalist geworden wie alle in Sarajevo. Das Schicksal ist wie das Herz , hat er gesagt, es ist vom ersten Augenblick an in uns, daher
hat es keinen Zweck, einen anderen Weg einzuschlagen.
Idiot.
Ich folge ihm. Ohne
kugelsichere Weste, weil sie zu schwer ist und weil auch ich heute die Deckung
vernachlässige. Ich bin müde, Müdigkeit macht waghalsig.
Außerdem sind ja
durch all den Regen die Gewehre vielleicht nass geworden und der Blick der
Heckenschützen ist getrübt und schuppig. Vielleicht ist es bei Regen einfacher,
mit heiler Haut davonzukommen.
Ich folge ihm durch
tropfende Laufgräben, durch verlassene Hausflure, zwischen den Platten
eingerissener Wände hindurch, die, von Granaten verschoben, ein gespenstisches
Gleichgewicht gefunden haben. Man sieht, woraus so eine Wand besteht, aus welchem
Geflecht, aus welchem Staub. Man hat diesen schamlosen Einblick. Verletzte,
enthüllte Intimität, offengelegt im allgemeinen Schmerz.
Doch niemand sieht
mehr hin, jeder geht seines Weges.
Die Blicke gleiten an
den Leichen vorbei und halten nicht an, wandern nicht zurück. In diesen
Schritten, die nicht Halt machen, in diesen Augen, die aussondern, liegt der
Krieg.
Die Augen sind das
einzige Gläserne, was nicht herausfällt, sie bleiben in ihren knöchernen
Rahmen, sind gezwungen hinzuschauen und Bilder zu schlucken, die den Körper
krank machen.
Es regnet. Ich gehe
meinem Mann nach, verliere ihn manchmal aus den Augen und finde ihn wieder. Ich
bin sehr hungrig.
Diego hat dieses
weiße Kreuz auf seinem roten Plastikrücken. Er geht in die Markthalle. Einsame
Menschen kreisen um sich selbst, wie Verrückte, wie Eingesperrte in einem
Krankenhaus, sie gehen mit gesenktem Kopf umher wie Tiere hinter einem Zaun,
der Stromstöße abgibt. Hin und wieder erzittert jemand, als wäre er an diese
Grenze gestoßen, die nicht tötet, sondern nur erschüttert, die das Nervensystem
zerrüttet. Zu kaufen gibt es nichts, man kann nur Plunder eintauschen, eine Kupferkanne,
eine Flasche Grappa, ein Glas Pflaumenmarmelade, ein BIC -Feuerzeug.
Diego beugt sich vor,
nimmt etwas auf und zieht einen Geldschein aus der Tasche.
Ringsumher nichts als
Wasser, es schüttet heftig, schwallartig, wie
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