Das schönste Wort der Welt
Schwestern.
Es ist ein
blassblauer Morgen, der vielleicht einen hellen Tag bringt. Wir rasen durch die
zerstörten Gassen von Bjelave.
In dieses Auto bin
ich erstmals vor einer halben Ewigkeit eingestiegen, während der Olympischen
Winterspiele. Gojko war damals voll von dümmlichem Glück, er strotzte nur so
vor Treuherzigkeit und Angeberei. Dieser aufdringliche Kerl born in Sarajevo sang auf Englisch mit kroatischem
Akzent Everybody’s
got a hungry heart … und hatte die gleichen ausgewaschenen Jeans wie Bruce Springsteen. Er wollte
Eindruck schinden, war aber in meinen Augen nur theatralisch. Den siehst du nie wieder , dachte ich damals.
Und hier sind wir
nun, versunken in diesem Labyrinth von Skeletten, von Wegen, die wie die
Achterbahn eines infernalischen Spielplatzes aussehen. Unvermittelt denke ich,
dass das hier, diese von Wahnsinn geschüttelte Gegenwart, noch nicht das Schlimmste
ist. Das Schlimmste kommt erst noch. Wenn die Kanonen abziehen, wenn die
Fernsehreporter abziehen und nur noch die graue Seite dieser Stadt übrig
bleibt, die nicht aufhört, einen Schmerz abzusondern, der lautlos wie Schimmel
ist. Wie Eiter.
»Schreibst du noch?«
»Nein.«
Er wirkt nicht
traurig, auch nicht verloren. Er kennt die Topografie dieser neuen, dieser
verminten und in Zonen unterteilten Stadt, in der man sich bewegt wie die Kugel
in einem Flipper und in der nur die Geschicktesten nicht im Loch landen. Gojko ist
ein guter Spieler. Auf die Zerstörung achtet er nicht mehr, daran ist er
gewöhnt. Er sucht nur noch nach einem freien Weg, nach einer günstigen
Gelegenheit.
»Woran denkst du?«
Er sagt, er habe
Zahnschmerzen und denke nur noch an diesen quälenden Backenzahn.
Das Licht im
Krankenhaus ist so matt wie das eines Friedhofs. Nur hin und wieder kleine
Betriebslämpchen, dann lange, dunkle Abschnitte und abstürzende Treppen. Unter
meinen Füßen spüre ich den holprigen Fliesenboden, der auf Matsch zu liegen
scheint. Ein Kabel und ein herabhängendes Stück Vertäfelung streifen meinen
Kopf. Fast alle Stationen sind getroffen, die Betten stehen eng zusammengerückt
in den Gängen. In der Dunkelheit wirken die Körper wie Sandsäcke. Ich versuche,
die unter den Decken hervorschauenden Füße und die schwarzen Blutröhrchen zu
ignorieren. Mit diesem Tunnelblick folge ich Gojkos Rücken. Gestalten kommen
uns entgegen, stoßen uns an. Jemand schreit. Das gerade erst aufkommende
Tageslicht scheint in eine schmutzige Dämmerung vorzurücken. Von einer Frau in
einem blauen Kittel gestützt, humpelt ein Kämpfer in Uniform vorbei. Auf einer
Trage sitzt rauchend ein alter Mann, dessen Bein am Knie in der Kappe eines
blutigen Verbandes endet. Gojko reicht mir die Hand und hilft mir über die kaputten
Treppen, auf denen man die hervorstehenden Absätze ahnt. Dort, wo entbunden
wird, herrscht Frieden, niemand jammert. Eine Frau beugt sich über ihren
prallen Bauch wie eine erschöpfte Reisende über einen Koffer.
Diego sitzt auf der
letzten Stufe einer dieser nunmehr geländerlosen Treppen.
Dies ist kein
gewöhnlicher Morgen. Wir sind wie in einem Unterseebergwerk begraben und
bewegen uns langsam durch das Wasser. Gojko geht los und sucht jemanden, der
ihm den verfluchten Zahn zieht, und falls er keinen finde, schreit er, werde er
sich eben selbst darum kümmern, er brauche nur eine Zange. Diego sieht mich und
steht auf. An seinem Geruch breche ich zusammen. Drei Tage lang habe ich ihn
nicht gesehen, ist er zum Schlafen nicht nach Hause gekommen.
»Wie geht es dir?«
»Gut, mir geht’s
gut.«
Wenige Worte, dann
nur noch die dampfenden Atemzüge auf dieser Station, die wie ein Schrottplatz
aussieht. Die Heizung funktioniert nicht, es ist wie unter freiem Himmel.
Irgendwann sollte ich Pietro von diesem Geruch erzählen. Dem Geruch nach
Erschöpfung und Kälte. Nach dem Hals seines Vaters, der zitterte wie der einer
Gans, die gerade gefangen wird.
»Sag was.«
»Was denn?«
»Irgendwas.«
Ich
liebe dich ,
vielleicht ist es das, was er hören will. Wir sitzen zusammen auf dieser
Treppenstufe, er hat den Kopf auf meine Beine fallen lassen.
»Ich habe das Geld
dabei«, sage ich.
»Es ist hier«, ich
tippe auf den Rucksack. Ich trage ihn nicht auf dem Rücken, sondern vorn unter
dem Anorak. Ich hatte Angst, an einem Sperrposten bestohlen zu werden. Jetzt
wird mir bewusst, dass dieser Rucksack wie der Bauch einer Schwangeren
aussieht. Diego lächelt, ein altes, betrübtes Lächeln. Weil in diesem
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