Das schönste Wort der Welt
schwärmt für Neuseeland und hat ihrem Bruder erzählt,
dass sie dort gern mal hinfahren würde, und Gojko hat ihr versprochen, das
Erste, was sie unternehmen, wenn alles vorbei ist, wird dieser
vierundzwanzigstündige Flug sein. Zusammen mit den Nachbarn geht sie die Treppe
hinunter, zusammen mit dem Mädchen, das größer ist als sie und beim
Hinuntergehen mit dem Arm an der Wand entlangstreift, ihn hinter sich herzieht
wie einen Schwanz.
Heute funktioniert
das Radio, zuerst kommen die Suchmeldungen, die Stimmen derer, die weit weg
sind und um Auskunft bitten, atemlos, als kämen sie aus einer Truthahnkehle,
dann schließlich, mit Gottes Hilfe, Musik.
Sebina tanzt und
hüpft. Die Frau, die die Suppe kocht, sagt, sie solle damit aufhören. Also
schlägt Sebina ihr Geografiebuch auf. Dann klappt sie es wieder zu und erzählt
einen Witz, den sie von ihrem Bruder hat. Sie schneidet Grimassen und stemmt
die Fäuste in die Hüften. Sogar die mürrische Frau am Suppentopf muss lachen.
Mirna ist noch nicht
da, sie ist hochgegangen, um auf der Terrasse Wäsche aufzuhängen, es ist der
erste schöne Sonnentag nach der langen Kälte, deshalb sind die Grenadiere in
den Bergen auch so euphorisch.
Die Terrasse ist
eigentlich ein strategisch ruhiger Punkt, der Wohnblock ist niedriger als die
anderen und liegt abseits.
Mirna hat blondes
Haar, in dem die weißen Fäden nicht so auffallen, sie trägt einen eng
anliegenden Rock und einen hochgeschlossenen Pullover, beides passt ihr jetzt
ausgezeichnet, es stammt noch aus ihrer Jugendzeit.
Ich sehe sie auf
dieser Terrasse und grüße sie, es sind die letzten Augenblicke ihres Lebens,
das zweite Jahr der Belagerung hat gerade begonnen. Auf diesem Dach mit den
Schornsteinen und Fernsehantennen haben wir manchmal geplaudert, ich ging mit
ihr mit, wenn sie die Wäsche hereinholte, dann rauchten wir zusammen und
schauten hinunter. Ich konnte sie gut leiden und sie mich auch, auf ihre Art,
ohne wirkliche Vertrautheit. Mit Scheu, ich war immer etwas fern für sie. Ich
war die verhinderte Frau ihres Sohnes und die Patin ihrer Tochter, doch im
Grunde kannten wir uns kaum, und in wenigen Augenblicken, wenn ihre Granate einschlägt, verlieren wir die Gelegenheit, uns je
näherzukommen.
Für einen kurzen
Moment sehe ich ihre Brust unter dem Pullover, unter dem BH , die nackte Brust einer lebendigen,
atmenden Frau.
Ich kehre nach unten
zu Sebina zurück. Sie blättert wieder in ihrem Geografiebuch, sie hat sich an
die Dunkelheit gewöhnt. Tagsüber kann man ein Fensterchen offen lassen, es
liegt oben, an der Straße, und lässt ein perlgraues Lichtröhrchen herein, mehr
nicht, es reicht, um sich einigermaßen zu sehen und den Rauch abziehen zu
lassen, wer hier unten Zigaretten hat, raucht sie auch. Sebina nervt dieser
Rauch, auch wenn sie inzwischen nicht mehr darauf achtet und erst, wenn sie
rausgeht, bemerkt, dass ihre Sachen stinken. Sie denkt an ihre Mutter. Manchmal
darf sie mit ihr auf die Terrasse, dann kann sie sich endlich die Beine
vertreten, macht Spagat, Überschläge und Schraubsprünge und läuft zwischen den
Schornsteinen und Antennen auf den Händen.
Ihre Beine sind
stämmig. Nicht mehr so wie früher, sie ist jetzt nicht im Training, doch sie
wird wieder anfangen und nicht lange brauchen, zum Glück ist sie eine kleine
Athletin, und dieser Krieg wird ihr die Olympiade nicht wegnehmen.
Dann ist es so weit.
Ich sehe Sebina vor
mir, zum Greifen nahe. Sie ist mir vertraut, ich hatte sie auf dem Arm, als sie
erst wenige Stunden alt war, ich habe sie getauft.
Ich sitze im Foyer
dieses Programmkinos, in dem ein Film läuft, den ich nicht sehen werde, und in
das ich an diesem regnerischen Nachmittag aus Versehen geraten bin. Ich sehe
stattdessen folgenden Film: Sarajevo, im Mai 93. Den Tod Sebinas und ihrer
Mutter Mirna.
Ich sitze da, und das
Mädchen erzählt, sie erinnert sich an jede Einzelheit, bis ins kleinste Detail.
Ich frage sie, ob sie Bücher nur übersetzt oder auch selbst welche schreibt.
Sie sagt: Woher
weißt du das?
Ich habe es an den
Details erkannt, es sind die eines Menschen mit einem Schriftstellergedächtnis.
Ein Messer, das trennt und auswählt.
Zu meinen Details
gehört: ein schmutziges Taschentuch, Sebina hat ein Eis gegessen, und ich habe
ihr den Mund abgewischt. Sinnloserweise frage ich mich jetzt, wohin ich das
Taschentuch mit den Spuren ihrer Lippen gesteckt habe.
Zu meinen Details
gehört: ihr Geruch nach Fisch.
Sie steht vor mir,
ihr Kopf
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