Das schönste Wort der Welt
zusammenhielt.
Halte
du ein Ende des Fadens,
mit dem
anderen in der Hand
wandere
ich durch die Welt.
Und
falls ich mich verlaufe,
meine
Mama, ziehe.
Für die beiden zog
der Tod, und er zog kräftig. Eine Granate durchschlug den abseits gelegenen
Wohnblock.
In diesem Moment
trafen sie sich. Mutter und Tochter. Bauch und Frucht.
Gojko sitzt auf dem
Erdhügel, Pietro neben ihm, sie sehen einem Fußballspiel zu, Jungen, die sich
verfolgen, T-Shirts, Fleisch.
Die Jungen dürften
ungefähr in Pietros Alter sein, die Nachkriegsgeneration.
Weiße Blumen der
Versöhnung.
Gojko sagt: »Sie war
nicht gleich tot, weißt du.«
Er zündet sich eine
Zigarette an, stößt den Rauch aus, hebt einen Arm, schreit, das war ein Foul,
und steht auf. Fußball und Friedhof.
Wir stehen auch auf,
verlassen das abschüssige Gräberfeld.
Gojko braucht ein
Bier.
Später trinkt er zwei
Flaschen, auf einer Bank am Kiosk vor dem Friedhof.
Mirna war in Stücke
gerissen, die man unter einem Laken für ihn wieder zusammengesetzt hatte, damit
er sie nicht so vorfand wie diesen heruntergefallenen Suppentopf, mit Brocken, die
in der Brühe schwammen. Es war der Körper, der ihn geboren hatte. Es war seine
Mutter, doch er zuckte nicht mit der Wimper und rannte zu seiner Schwester.
Sebina hatte keine
Beine mehr. Ihr Oberkörper war unversehrt. Die Augen glasstarr. Er fand sie in
einem weißen Bett, gefasst, mit Röhrchen an den Händen, sie lag in einer Art
Treppenverschlag im Krankenhaus von Koševo. Er sah das leere Betttuch weiter unten und fragte sich, ob sie es
wisse.
Sie hätte die
Olympischen Spiele gewinnen können, sie war die kleinste in der Mannschaft, die
mit der größten Bodenhaftung. Gojko schloss zweimal die Augen. Das erste Mal,
weil er es nicht glauben wollte, das zweite Mal, um Gott dafür zu danken, dass
sie am Leben war.
Die Ärzte hatten in
diesem aussichtslosen Fall, der sich in der Stadt schon so oft wiederholt
hatte, alle Hoffnung aufgegeben. Gojko saß neben seiner Schwester mit den
verwirrten Augen und setzte seine Phantasie in Gang wie damals, als er Jo-Jos verkauft
und sogar die Montenegriner übers Ohr gehauen hatte, er stellte sich künstliche
Gliedmaßen vor, funkelnde, den letzten Schrei der prothetischen Orthopädie. Er
wollte ihr die schönsten Prothesen der Menschheitsgeschichte anfertigen lassen,
wollte dafür all sein Geld springen lassen und mit den Journalisten noch mehr
dazuverdienen, er würde sie sogar nachts zu den Schützengräben führen.
Auf dem Metalltischchen
neben dem Bett stand ein Schuh, daran erinnert er sich noch. Dieses unheimliche
Detail hat sich ihm eingeprägt. Er bewegt die Hände, führt sie zusammen, um mir
zu zeigen, wie klein der Schuh war, den er sieht, der jetzt hier in seinen
Händen ist. Armer Gojko, armer Bruder. Nun zittert seine Stimme wie die eines
Ungeheuers, das von einer winzigen, doch unglaublich starken, grausamen Maus
gepeinigt wird. Er wollte diesen Schuh wegräumen, den jemand von der Treppe
aufgelesen und in den Wagen geworfen hatte, der das zerfetzte Mädchen
wegbrachte. Jemand, der vor Entsetzen den Kopf verloren und nicht bemerkt
hatte, wie makaber sein Übereifer war. Doch Gojko räumte ihn nicht weg, er
traute sich nicht. Sebina war bei Bewusstsein, ihre Augen waren wie Glitzerkugeln
in der Nacht, Diamanten. Er war sich nicht sicher, ob sie ihren Körper spürte,
ob sie wusste, dass sie keine Beine mehr hatte. Was man von ihr sah, war in
Ordnung, sie hatte nicht einmal einen Kratzer im Gesicht. Also ließ er den
Schuh stehen, um ihr nicht die Illusion zu rauben. Er sprach mit ihr, und sie
schien ihm zuzuhören.
Sie fragte nach ihrer
Mutter, rief nach ihr.
Gojko sagte, es gehe
ihr gut, man habe sie auf eine andere Station gebracht.
Sebina hörte die
Lüge, sie wollte nicht einmal was trinken, sie wollte überhaupt nichts.
Kein einziges Mal
bewegte sie die Hände. Der Schuh stand neben ihr.
Und ich sehe noch
einmal dieses Flugzeug vor mir, dieses EXIT -Lämpchen und die fremde Frau, die mir
den blinkenden Schuh zeigte.
Gojko sagt, er müsse
kaputtgegangen sein, durch die Explosion habe sich wohl etwas verklemmt, das
Licht in der Gummisohle habe ununterbrochen geleuchtet.
Auf dem
Metalltischchen stand eine blasse Lichtzunge. Sebina konnte sie sehen. Gojko
ließ sie, wo sie war, und dachte Wenn der Schuh durchhält, schafft sie es auch . Es war eines seiner Spielchen, das
schlimmste.
Sebina erlosch bei
Tagesanbruch, der Schuh überdauerte sie noch
Weitere Kostenlose Bücher