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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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waren sie ein
bisschen in Mode, sagt sie. Viel Geld hat sie nicht, das sieht man an dieser
glanzlosen Jacke, sie hatte einen italienischen Verlobten, das ist jetzt
vorbei, sie wartet ab. Sie hat kleine, schneeweiße Hände, das sanfte, stolze
Gesicht ihrer Heimatstadt und eine so schwache Stimme, dass ich sie fast nicht
verstehe. Wir sitzen auf einem roten Sofa, es riecht muffig, nach Teppichboden,
der nass wird und wieder trocknet.
    Ihre Stirn ist hoch,
ihre Haare sind wie zerfaserte Wolle, darauf prallt ein zu weißes Licht. Sie
ist im letzten Jahr der Belagerung fortgegangen; als wieder ein paar Straßenbahnen
fuhren, war sie eingestiegen, hatte sich auf den Boden gesetzt und war nicht
wieder aufgestanden, auch in den unbesetzten Gebieten nicht, sie war von der Baščaršija bis nach Ilidža gefahren. Sie war schön, diese
Straßenbahn, diese heilen Fenster waren schön. Sie hatte den Untergang ihrer
Stadt gesehen wie im Kino, Straßen wie ein vorüberziehender Film. Da hatte sie
beschlossen, nicht länger zu bleiben, sie konnte sich nicht vorstellen, weiter
dort zu leben, die Narben schienen ihr schlimmer zu sein als die Wunden.
    »Sie haben es nicht
geschafft«, sagt sie.
    Da ist dieses Licht,
das ihren Kopf ausbleicht und einen Teil ihres Haars verwischt, das
kastanienbraun ist, doch weiß und alt aussieht. Sie schaut mich an, kommt mir
mit ihrem Blick zu Hilfe.
    Ich dürfte nicht
leiden, weil es schon vor vielen Jahren geschah, es ist keine offene Wunde,
sondern eine weiße Narbe, verschwunden in der Haut der Zeit. Doch gerade diese
Zeit, die verging, ohne dass ich etwas erfahren habe, ist so schmerzhaft.
    Ich gehe auf Gojko
zu. Sehe zu Boden. Es ist ein Doppelgrab, der Stein kaum größer als ein
einzelner, wie ein Bett mit anderthalb Plätzen.
    Wie das Bett, in dem
Mutter und Tochter schliefen und in dem Diego und ich uns zum ersten Mal
liebten.
    Hier liegen Sebina
und Mirna.
    Ich bekreuzige mich
und fahre mir mit der Hand übers Gesicht.
    Die Inschrift auf dem
Stein ist ziemlich lang, Gojko übersetzt sie für Pietro, ohne zu stocken und
ohne die Stimme zu verändern, so wie sich auch sein Gesicht nicht eine Sekunde
verändert hat.
    Halte
du ein Ende des Fadens,
    mit dem
anderen in der Hand
    wandere
ich durch die Welt.
    Und
falls ich mich verlaufe,
    meine
Mama, ziehe.
    Pietro fragt: »Ist
das ein Gedicht von dir?«
    Gojko nickt
widerwillig, es ist ein Stück aus einer Ballade, die er für Sebinas letzten
Geburtstag geschrieben hatte, der war am dreizehnten Februar, es fielen Bomben
und Schnee, doch sie feierten, ohne es sich an etwas fehlen zu lassen.
    »Es ist eines der
hässlichsten, die ich je geschrieben habe, doch ihnen hat es gefallen.«
    Pietro sagt: »Das ist
doch nicht hässlich.«
    Ich schluchze im
Bauch, in den Schultern. Pietro sieht mich an. Am liebsten würde ich
zusammenbrechen und mich totweinen. Doch ich schäme mich, vor meinem Sohn und
vor Gojko, der alles verloren hat und mit keiner Wimper zuckt, ich schäme mich
für mein rührseliges Alter, das mittlere, wie es heißt, das mir aber viel
weiter fortgeschritten zu sein scheint.
    »Wie ist es
passiert?«
    Das Mädchen erzählte
mit stets gleichbleibender Stimme, und ich klammerte mich an diesen dünnen
Faden, von dem ich heute weiß, dass er die Stimme der Überlebenden ist, der
Menschen, die wie verlorene Fäden weiterlebten. Ihr Italienisch war ein
Singsang von fast einschläfernder Monotonie. Also, es war folgendermaßen.
    Die Alarmsirenen
heulen schon eine Weile, und Sebina muss in den Keller hinunter, das passt ihr
nicht, aber sie macht keine Sperenzchen mehr. Inzwischen ist es zur Gewohnheit
geworden, der Keller ist gut eingerichtet, mit einer Autobatterie, die man hin
und wieder aufladen kann, sodass manchmal das Radio läuft; mit einem Kochtopf
für das Gemeinschaftsessen und mit einem Vorhang, der den Toiletteneimer
verbirgt. Mit Büchern, Decken und schmalen Liegen für die Nacht.
    Die Mutter mahnt sie
zur Eile, denn Sebina trödelt herum und streut Futter ins Aquarium, dazu
stibitzt sie etwas von dem schwarzen Klumpen aus dem Hilfspaket, der wohl
Fleisch sein soll, doch wie Futter für die Fische stinkt und ihnen auch zu schmecken
scheint. Sie möchte sie in das leere Einweckglas von den Kirschen schütten, wie
sie es manchmal tut, um sie mit in den Schutzraum zu nehmen, doch Mirna regt
sich auf, die Granaten sind heute wie die Steine eines nicht enden wollenden Erdrutsches.
    Sebina nimmt nur ihr
Geografiebuch mit. Sie

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