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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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geboren wurde, zufällig , wie er seinen Lehrern und seinen
Freunden in der Schule stets erzählt hat. Er muss viel mehr darüber nachgedacht
haben, als ich mir träumen ließ, über den in dieser Stadt enthaltenen Zufall . Und vielleicht hat er ihn in diesen
letzten Tagen gesucht, als er sich so gut wie nichts ansah und immer mit
gesenktem Kopf herumlief.
    Gestern Abend fragte
er mich im Bett: »War Diego besser auf der Gitarre als ich?«
    »Nein, du bist
besser, du hast das richtig gelernt. Papa spielte nach Gehör.«
    Er drehte sich weg
und wälzte sich endlos herum, er störte mich beim Einschlafen.
    »Darf man erfahren,
was du hast?«
    Er schnellte hoch wie
ein Tiger.
    »Mich nervt, dass du
ihn Papa nennst.«
    »Aber er ist dein
Vater.«
    »Und warum ist er
dann nicht mit uns nach Rom gekommen?!«
    »Er hat gearbeitet.«
    »Nein, er hat uns
verlassen.«
    Er zog mich am Arm.
    »Stimmt doch, oder?«
    Ich wartete darauf,
dass er einschlief. Vielleicht hatte er was gehört, in den Mauern dieser Stadt,
die zu ihm gesprochen, ihm eine Wahrheit zugeflüstert hat, die zwar tot ist,
die es jedoch gegeben hat und die irgendwo verzeichnet ist, zusammen mit den Namen
auf den Gedenktafeln an den versehrten und wieder zusammengeflickten Häusern.
    Der Löwen-Friedhof
liegt neben dem Stadion, neben den Betonbauten der Umkleidekabinen. Die Gräber
ziehen sich einen Abhang hinauf, der wie eine Weinterrasse aussieht.
    Die muslimischen
Grabsteine stehen schief, zeigen alle nach Mekka und scheinen vom Wind umgeweht
zu sein.
    Gojko fragt mich, ob
ich anhalten möchte.
    Seit unserer Ankunft
möchte ich hierherkommen, doch ich fand nicht die Kraft dazu. Auch an diesem
Morgen habe ich sie nicht. Doch da wir kurz vor der Abreise sind, fasse ich ihm
an die Schulter und sage Ja, halt an . Gojko schaltet den Blinker ein und fährt rechts heran, als wäre
nichts weiter. Als hielten wir, um einen Kaffee zu trinken, mit genau so einem
Gesicht.
    Jetzt geht er voran,
sein T-Shirt ist auf dem Rücken durchgeschwitzt. Er schaut nicht auf die
Grabsteine, er kennt den Weg.
    Er sieht aus wie ein
Bauer, der uns durch seinen Weinberg führt.
    Halb Sarajevo liegt
hier begraben. Die Geburtsdaten wechseln, die Todesdaten wiederholen sich. Das
Schicksal war wie ein schwarzer Sack. In diesen drei Jahren hielt der Tod
ungewöhnlich reiche Ernte.
    Tod bedeutet
Einsamkeit, doch selbst diese Privatheit wurde den Menschen genommen, sie
mussten in Trauben sterben wie Insekten. Des Lebens beraubt zu werden schien am
Ende fast akzeptabel zu sein, doch des Todes beraubt zu sein ist etwas anderes
… als Schüttgut zu enden, durcheinandergeworfen wie Schmutzwäsche, wie faules
Obst.
    Gojko übersetzt
einige Grabinschriften. Er tut es für Pietro, der ihn nicht mehr in Ruhe lässt.
Gojko entzieht sich nicht, er erzählt ihm die grausigsten Geschichten.
    »Nach einer Weile
gingen die schwarzen Ziffern für die Grabsteine aus, es fehlte an Zweien für
die 1992, und alle warteten darauf, dass endlich 1993 anbrach, dann gingen auch
die Dreien aus.« Er lacht. »Ein richtiges Drama.«
    Er ist stehen
geblieben. Wartet, bückt sich, reißt etwas ab, eine hässliche Kletterpflanze.
    Hier ist die
Abteilung mit den katholischen Kreuzen. Ich gehe weiter und möchte nicht gehen.
Er sieht mir entgegen.
    Der Untergang hatte
längst begonnen. Doch an jenem Tag hörte dann alles auf. Es starben die Jo-Jos,
die Levi’s 501, die Songs von Bruce Springsteen und Gojkos Gedichte.
    An jenem Tag war ich
schon seit einer Weile nicht mehr in Sarajevo. Ich erfuhr erst Jahre später
davon, zufällig, im Foyer eines Programmkinos: Dort sehe ich ein junges
Mädchen, das mich durch eine Brille anschaut, dazu eine festliche Jacke aus
schwarzem, ins Grünliche spielendem Atlas über schlaffen Jeans. Sie erkennt
mich, ich gebe ihr einen Kuss, umarme sie und sehe sie erneut an. Jedes Mal,
wenn ich einen von ihnen treffe, kommt es zu dieser Umarmung, stumm und tief.
Es ist Schmerz, der sich wieder einprägt, der wieder in eine Gussform fließt,
die auf ihn gewartet hat. Das Mädchen war die Nachbarin von Mirna und Sebina,
sie war damals fast noch ein Kind. Sie geht mit gesenktem Kopf die Treppe hoch,
ihr Arm, weich hinter ihr wie ein Schwanz, streicht über die Wand. Ich gebe ihr
einen kräftigen Kuss, weil sie am Leben ist, auch wenn ich sie nicht gut kannte
und nie an sie gedacht habe, mich nie gefragt habe, was aus ihr geworden ist.
Sie übersetzt Romane aus dem Serbokroatischen, nach dem Krieg

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