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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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hätte man auf den ersten Blick glauben
können, in London zu sein. Künstler mit langen, weißen, nikotinvergilbten
Haaren geistern zusammen mit gespenstischen Mädchen umher, die mit
geschlossenen Augen herumwanken, die Lider schwarz geschminkt, wie glänzende
Miesmuscheln. Die Lichter kommen und gehen, die Musik ist hart, von EKV . Sie scheint aus den Tiefen der Erde
zu kommen und lässt die Tische, die Aschenbecher und die leeren Gläser, die
kein Mensch abräumt, erdbebenartig erzittern. Gojko stellt uns Dragana vor, die
beim staatlichen Fernsehen arbeitet und Stimmen imitieren kann, für uns spricht
sie wie die Schlümpfe; dann ihren Freund Bojan, Pantomime und
Theaterschauspieler; außerdem Zoran, einen Anwalt mit einem ernsten,
aknenarbigen Gesicht, und Mladjo, den Maler, der an der Kunstakademie Brera
studiert hat. Von seinen Freunden verschluckt, verschwindet er.
    Diego kniet sich
neben mich.
    »Was willst du
trinken, Kleine?«
    »Keine Ahn… Was
wollen wir trinken?«
    Ich bin wie betäubt,
schon seit Ewigkeiten bin ich nicht mehr in einem Nachtklub gewesen, alle sind
halbnackt, alle tanzen. Ich trage einen Angorapullover und einen strengen Rock,
ich fühle mich ungelenk, am falschen Ort.
    Ich habe einen Platz
auf einem glatten Sofa ergattert. Diego kommt mit einem großen Eisbecher zurück,
nur einem für zwei.
    »Was anderes habe ich
nicht gefunden.«
    Wir essen vom selben
Löffel. Er füttert mich und sieht mir beim Essen zu. Ein Eis bei all dem
Schnee, und doch ist es genau das Richtige, es schmilzt, gleitet in die Hitze
des Körpers. Dann kommt er statt mit dem Löffel mit dem Mund heran. Er küsst
mich nicht sofort, hält inne, sein Atem auf meinen kalten Lippen. Als wartete
er auf die endgültige Genehmigung, er nähert sich diesem Kuss langsam.
Vielleicht ist er gerissener, als es den Anschein hat. Vielleicht ist er kein
Kind von Traurigkeit, einer von denen, die viel Zeit in zerwühlten Betten
verbracht haben. Es ist ein langer Kuss, weich, die Zungen wie Schnecken, die über
eine Piazza kriechen.
    Was, wenn er in
dieser Nacht kein Vertrauen zu mir gehabt hätte. Dabei wollte er nichts anderes
als mir vertrauen. Die Münder wie die Masse nur eines Mundes. Pietro hat sich
im Bett umgedreht und etwas gemurmelt, ist unvermutet aus dem Schlaf getaucht
und wieder hinabgesunken, wie ein Mantarochen, der zur Oberfläche aufsteigt und
in seine dunklen Tiefen zurückkehrt. Seit langem schlafe ich nicht mehr mit ihm
in einem Bett, ich hatte seine blankliegenden Nerven vergessen, wie
Gitarrensaiten, die plötzlich reißen. Er wollte nie etwas über seinen Vater
erfahren. Pietro
schützt sich ,
sagte Giuliano, er ist
ein Junge, und Jungen fürchten sich davor, zu leiden .
    Ich erzählte Pietro
stets mit Unbeschwertheit von seinem Vater, sagte ihm, wie komisch er gewesen
sei, mit seinen Straußenbeinen und seinem spärlichen Bart, den er sich stehen
ließ, um erwachsener auszusehen. Ich erzählte ihm von dem Tag, als er zu mir
kam und sagte, ihm sei die beste Fotoreportage seines Lebens gelungen, und dann
feststellte, dass er keinen Film in der Kamera hatte. Ich erzählte ihm, dass ihm
beim Gehen immer die Hosen herunterrutschten, weil er so dünn war, genau wie du , sagte ich, und dass er immer vergaß,
sich einen Gürtel umzuschnallen, weil er mit den Gedanken sonst wo war, genau wie du . Und jedes Mal schluckte ich die
Tränen runter und lachte.
    Giuliano schwieg
lange. Dann sagte er: Und genau das hat er bemerkt … deinen Schmerz .
    Ja, es stimmt, ich
suchte seinen Vater in ihm, fieberhaft, an jedem Tag seines Lebens.
    Eines Abends sitzen
wir in der Küche, Pietro öffnet den Kühlschrank und ärgert sich, weil ich kein
Eis gekauft habe. Ich sage ihm, er solle sich wieder hinsetzen, wir seien noch
nicht mit dem Essen fertig, sage ihm, er sei verwöhnt und unverschämt. Giuliano
legt seine Hand auf meine, sagt, er wolle runtergehen und Eis kaufen, die Bar
sei ja noch geöffnet. Jetzt rege ich mich auch über ihn auf, sage, so sei er
mir bestimmt keine Hilfe, er lasse sich von Pietro vereinnahmen, lasse sich
behandeln wie einen Fußabtreter. Er steht auf und lässt uns allein. Am
Kühlschrank hängt Diegos Foto. Pietro baut sich davor auf, dreht sich zu mir: Was für einen Scheiß du erzählst, ich sehe
ihm überhaupt nicht ähnlich . Er sieht mich an wie ein Mann, wie ein Fremder: Ich sehe niemandem ähnlich .
    An jenem Abend
jedenfalls gab es Küsse, einen im anderen. Diego hatte sich auf dem

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