Das schönste Wort der Welt
das Kind ansehen, der Schnee liegt torhoch, aber Gojko hat Schneeketten.
Wir müssen das begießen! Er freut sich, dass es ein Mädchen ist, denn in seiner
Familie werden nur Jungen geboren, und was für ein Glück, dass sie gerade heute
zur Welt gekommen ist, denn wer unter rieselndem Schnee geboren wird, hat ein
langes, süßes Leben. Wem wird sie wohl ähneln? Er hofft, dass sie nach seiner
Mutter kommt, die bildschön ist und die beste Fleischbrühe in ganz Bosnien
kocht. Er küsst uns, umarmt uns. Er ist gerührt. Schlagartig sind auch wir
gerührt. Wir sind sechs feuchte Augen, die sich anschauen wie verdutzte Fische.
Im Auto singen wir.
Wir wissen nicht, was, doch wir singen, wir folgen den Refrains aus dem Radio.
Der Schnee liegt hoch, der Himmel ist dicht wie Kreide. Die Autos fahren mit
Licht, kommen nur im Schneckentempo voran. Vor der Kolonne räumt ein Schneepflug
die Straße. Auch heute fegt uns jemand den Weg frei!
Alles ist weiß und
tief. Gojko steigt aus, um was zu trinken zu kaufen, wir sehen ihm nach, er
stapft zu einer Leuchtreklame durch den Schnee. Diego dreht sich um.
»Freust du dich?«
»Ja … Ich habe noch
nie so ein Schneegestöber gesehen.«
Er nimmt meine Hand,
er zieht sie aus meiner Tasche und nimmt sie sich.
»Ich will dich
fotografieren, heute fotografiere ich dich den ganzen Tag.«
Schneebedeckt wie ein
Schlittenhund kommt Gojko zurück. Er entkorkt eine Flasche Perlwein.
»Das ist
österreichischer, kostet ein Vermögen.«
Mein Leben liegt in
einem fernen Garten unter einer Eisscholle begraben. Die Scheinwerfer fahren
ins Weiße. Seine langen Finger sind mit meinen verflochten und halten mich
fest, sie reden mit mir, schwören mir alles. Diese Hand genügt. Die Hand dieses
Jungen, den ich nicht kenne, die mich aus der abgeschotteten Festigkeit meines
Körpers reißt. Sie ist wie die eines Kindes … wie eine vor langer Zeit verloren
gegangene Hand, die eines kleinen Freundes aus meinem Kindergarten, der immer
mit mir zusammen sein wollte. Guter Klebstoff der Vergangenheit. Mit einer
kleinen, unmerklichen Bewegung wische ich eine Träne weg, die noch in meinen
Wimpern hängt.
Im Krankenhaus
herrscht eine wohltuende, fast übermäßige Wärme. Die Entbindungsstation hat den
Geruch einer Wohnung, von Kochtöpfen auf dem Feuer, von aufgehängter Wäsche.
Der Krankensaal ist groß, fast alle Betten sind leer. Gojkos Mutter sitzt gegen
die Kissen gelehnt im Bett und schaut zum Fenster, zum fallenden Schnee. Gojko
beugt sich über sie, umarmt sie. Wir bleiben ein paar Schritte zurück, er winkt
uns heran. Mirna sagt: » Hvala vam .«
»Meine Mutter bedankt
sich bei euch.«
Wir fragen ihn, wofür
sie sich bedankt, Gojko zuckt mit den Achseln.
»Dafür, dass ihr mir
Arbeit gegeben habt.«
Ich bin betroffen,
seine Mutter hat wirklich Ähnlichkeit mit Lady Diana, und es stimmt, dass sie
sogar noch schöner ist. Sie hat einen stolzen Hals und ein zartes Gesicht, das
von den Wangenknochen gehalten wird wie ein schneeweißes Tuch auf einem
Klöppelkissen, dazu indigoblaue Augen und ein Knäuel goldblonder Haare.
Da stehen wir nun
also an diesem unglaublichen Tag am Bett einer Wöchnerin, die schön wie eine
Königin ist. Ein langer Schauder höhlt mich aus wie die Spitze eines Bohrers.
Vielleicht empfindet der Fotograf aus Genua genauso. Er hat respektvoll die
Mütze abgenommen, wie in der Kirche. Es ist das Leben, das hier die Karten
mischt, das plötzlich lossingt und den Tag ankündigt wie ein Hahn.
Man bringt ihr das
kleine Mädchen in einer Kartusche aus schneeweißen Tüchern. Es hat leicht
quadratische Wangen und ein spitzes Kinn. Eine Schönheit ist es nicht. Es
schreit nicht, hat die Augen offen und scheint schon alles zu wissen. Bei
seinem Anblick öffnet Mirna den Mund, als suchte sie, die Mutter, Nahrung bei
der Kleinen. Gojko ist überwältigt, Tränen, groß wie Kürbiskerne, rollen ihm
über die Wangen. Er nimmt ihr Händchen und bestaunt sie. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle,
Signorina, ich bin Ihr Bruder Gojko … und ich werde Ihnen der Vater sein .
Gojkos Vater ist
wenige Monate zuvor an Krebs gestorben, seine Mutter hat zum Glück eine gute
Arbeit, sie unterrichtet an einer Grundschule, sie ist eine Kroatin aus Hvar
und sehr katholisch, für sie kam eine Abtreibung nie in Frage.
Jetzt kreischt sie
mit einer Stimme, die im krassen Gegensatz zu ihrer Schönheit steht. Sie will
nicht, dass ihr Sohn das Neugeborene anfasst, bevor er sich die Hände
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