Das schönste Wort der Welt
Geranien und die gelbe Wand des
Fischladens. Noch wenige Schritte, und wir hätten diesen Schrei nie und nimmer
gehört: »Ante! Ante!«
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wir, wie die Kinder auf dem düsteren Strandstreifen hin und her laufen und
diesen Namen schreien. Es geht blitzschnell, mit einem Ruck. Diego ist nicht
mehr bei mir. Barfuß stürzt er die Klippen hinunter. Hals über Kopf hastet er
die Strecke zurück, die wir soeben gekommen sind, auf dem kürzesten Weg, dort,
wo die Felsen steil abfallen.
Jetzt läuft er über
die Kieselsteine, und ohne anzuhalten wirft er Rucksack und Kamera hin.
»Warte!«
Als ich den Strand
erreiche, ist es schon spät. Diego ist ein kleiner Vogelkopf, der von Welle zu
Welle springt. Die Kinder rings um mich her sind sprachlos und verzweifelt wie
dumme Ziegen. Auch ich bin sprachlos. Das Kind ist nicht mehr da. Dieses
verfluchte Ei sitzt nicht auf seinen Fersen und schwankt hin und her, ich suche
es mit den Augen und weiß doch schon, dass ich es nicht finden werde.
Ich greife mir die
gelb-schwarzen Schwimmflossen, die zu groß für meine Füße sind, stürze mich ins
Wasser und versuche, wie Diego die Wand zu überwinden, wo sich die Wellen
brechen, doch diese Wand schleudert mich zurück. Ich schlucke Wasser, bekomme
keine Luft. Und während ich Wasser schlucke, schießt mir durch den Kopf, dass
schon seit Beginn dieser merkwürdigen Ferien abwechselnd einer von uns dreien
sterben will.
Klitschnass und
erschöpft starre ich auf das Meer, hinter die Schaumbarriere. Die Zeit vergeht.
Die Zeit steht still. Die Kinder um mich her sind wie erloschene Kerzen, ihre
Reflexe sind grau. Mir ist, als hätte ich erneut Diegos Kopf gesehen, oben auf
einer Welle, und dann verschluckt von ihrem Tal. Ich musste an die Vögel
denken, die übers Wasser gleiten und ihr Leben aufs Spiel setzen, um einen
Fisch zu fangen.
Auch die Musiker sind
jetzt da, herbeigelaufen aus ihrem grauen Haus. Der Junge mit dem roten Fleck
im Gesicht hat sie alarmiert, sodass nun eine ganze Menschenansammlung am Strand
ist. Gojko kommt mit offenem Reißverschluss an der Hose, das Hemd weit offen.
Garantiert hat er gerade mit einer der Musikerinnen gefickt, die nach
getrockneten Sardellen und billiger Schminke stinken. Seine Haare sind
zerzaust, und sein Gesicht ist finster und bestürzt wie das eines pathetischen
Schauspielers.
Er wirft einen Blick
auf die Bucht und auf die Klippen, die dort aufragen, wo die Kiesel aufhören.
Er klettert hinauf und verschwindet hinter den Felsen.
Wenig später taucht
er wieder auf, erschöpft wie ein Schiffbrüchiger, und mit ihm Diego, der den
Jungen fest an sich presst, ein Arm baumelt herab. Mit dieser kleinen Trophäe
aus Fleisch und Blut kommt er näher. Ich laufe los, erreiche sie.
Diego lächelt mir
schwer keuchend zu. Die Strömung hat sie in die kleine Bucht nebenan gespült,
dort sind sie an Land geklettert. Ante ist blassblau, benommen vom Wasser.
Diego reibt ihm den Rücken, Gojko gießt ihm ein Gläschen Grappa in den Hals.
Die anderen Kinder stehen zu dicht um ihn herum, begraben ihn unter sich und
begaffen sein übermäßiges Zittern, seine Zähne, die wie ein Hammer auf einen
Nagel schlagen. Sie lachen über seine runzligen, vom Wasser verzehrten Hände,
über seine dunkelblauen Lippen. Sie starren ihn an wie einen abartigen Fisch,
der sich im Netz verfangen hat. Das Kind spuckt etwas Meer aus, zieht sich hoch
und reißt aus, es verschwindet in der Macchia.
Die anderen Kinder
fassen sich an den Kopf und geben uns zu verstehen, dass dieser Rotzjunge nicht
ganz bei Trost ist, irgendwie unterbelichtet … dass er nicht alle Tassen im
Schrank hat.
Wir kehren ins Hotel
zurück. An diesem Abend ist es kalt. Der Wind hat sich gelegt, hat aber eine
rauere Luft gebracht. Salzverklebt, wie wir sind, schmiegen wir uns ins Bett.
Ante kommt nicht mehr
zum Strand. Die Kinder erzählen uns, dass die Mutter ihn bestraft habe, sie hat
ihn mit einem Strick verprügelt, mit demselben, mit dem sie nachts die Ziegen
im Stall festbindet. Das Meer ist ruhig wie Glas. Der Junge mit dem Fleck im
Gesicht peitscht das Wasser mit den gestohlenen gelb-schwarzen Flossen des
französischen Touristen. Diego liegt auf dem Bauch und sieht zur Macchia und zu
den Klippen hinüber. Er vermisst das verfluchte Ei, er sucht es. Weil dieses
Kind manchmal aus den Büschen auftaucht und zum Strand späht, ohne sich zu
trauen, die Macchia-Grenze zu überqueren. Die anderen werfen dann mit Steinen
nach ihm,
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