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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Mazzantini
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Bild auf. Schönheit, die
aufs Geratewohl hervorbricht, wie immer im Leben.
    Am folgenden Tag bei
Sonnenuntergang ist das Kind wieder da. Diego liegt in der Abendsonne, sie ist
uns am liebsten, weil sie rot ist und sanft wie alles, was kurz davor ist zu
vergehen. Er hat die Sonnenbrille abgenommen, das herrliche Licht überflutet
sein Gesicht. Lautlos wie eine Schlange gleitet er zur Kamera, nimmt sie aus
dem Futteral und presst sie ans Auge.
    Das Kind ist da, mit
dem Rücken zu uns, zusammengekauert wie immer, wie ein Ei. Ich weiß nicht, wann
es gekommen ist, eben war es noch nicht da. Es kam mit diesem sanften Licht.
Aus den Sträuchern aufgetaucht wie eine Ziege, die sich verlaufen hat. Diego
hat sich bäuchlings herangepirscht. Auf den Ellbogen kriecht er noch einige
Meter weiter nach unten. Das Kind ist jetzt im Wasser und geht seiner
Beschäftigung nach. Es versucht, mit bloßen Händen Fische zu fangen, und taucht
die Hand wie einen Schnabel ein, so wie ein hungriger Vogel. Diego drückt ab,
es ist nur der Bruchteil einer Sekunde. Das Kind hat einen Fisch gefangen, für
den Bruchteil einer Sekunde hat es ihn gefangen. Ich sehe das Foto vor mir, ein
Möwenkind und ein kleiner Fisch in der Luft vor der sinkenden Sonne. Vielleicht
ist dies das Bild, die Schönheit aufs Geratewohl.
    Es war nur dieser
Bruchteil einer Sekunde, unmittelbar darauf ist der Fisch verloren und das Kind
auf und davon. Auch die Sonne ist weg, sie hat einen trüben, eintönigen Himmel
zurückgelassen, der aussieht, als hätte es diese Sonne nie gegeben.
    Ich sehe Diego an,
der auf den Rücken fällt, der tief erschöpft durchatmet und seine Leica
umklammert. Da denke ich, dass es einen Engel gibt, der von Zeit zu Zeit
herunterkommt, weil wir ihm leidtun, wir und all die Dinge, die uns aus den
Händen gleiten und aus den Augen.
    Eines noch fernen
Tages sollte Gojko beim Anblick dieses Fotos überwältigt sagen: »Jetzt weiß
ich, was Kunst ist.« Und mich mit seinem triefenden, vor Klugheit benommenen
Blick durchbohren: »Es ist Gott, der sich nach den Menschen sehnt.«
    Gojko ist nicht bei
uns, er fehlt schon seit Tagen, erst am Nachmittag kommt er ans Meer. Er
behauptet, er habe ein paar Sachen in der Altstadt zu erledigen, die Sonne
schlage ihm auf den Kopf, ihm sei ein Gedicht eingefallen. Vielleicht hat er
uns satt. Vielleicht sind wir langweiliger als früher. Seine Dior-Mokassins
sind inzwischen ausgelatscht, seine weißen Hosen vorn dunkler und voller
Fettflecke. Die Ferien gehen zu Ende.
    Wir haben angefangen,
uns wieder auf die Welt einzulassen, die uns erwartet. Diego steht in der
Telefonkabine des Hotels und spricht mit Duccio, für die kommende Woche hat er
bereits zwei Fototermine. Ich habe mit dem Kofferpacken begonnen. Aus heiterem
Himmel fragt mich Gojko: »Warum habt ihr zwei eigentlich noch keine Kinder?«
    Der Wind weht Musik
herüber, Geigenklänge. Gojko steht auf und geht ihnen nach. Später kommt er
zurück, singend, torkelnd. Er hat sich mit Freunden ein paar Gläschen
genehmigt. Sie gehören zu einer Gruppe von Studenten der Musikakademie von
Sarajevo und wohnen direkt am Strand in der ehemaligen Forstwache, einem
großen, grauen Haus, baufällig und mit einem Backsteinboden umgeben, der so
dunkel wie der Felsen ist.
    Wenn sich der Wind
dreht, klingen aus diesem grauen Haus die Instrumente herüber, die sich
aufeinander einstimmen. Sie proben für ein Konzert, wie uns Gojko erzählt hat.
    Das Kind hat uns gesucht,
als hätte es unseren Mangel gewittert. Es kommt zwischen den anderen zu uns,
zwischen ihrem Geschrei. Wie gewöhnlich späht es von weitem zu uns herüber,
hinter dem Schutzschild seiner Wildheit hervor.
    Es ist windig. Gegen
zwei Uhr wandern Diego und ich zur ersten Bude, an der man – in einem
Plastikzelt – etwas zu essen bekommt, und bestellen Pager Käse und Gurken. Das
Zelt schwankt, die Zipfel flattern. Der Wind hat zugenommen. Das Meer gerät in
Aufruhr und schlägt in hohen Wellen, dicht wie Heuballen, auf den Strand.
    Wir kehren zurück, um
unsere Sachen zu holen, die Handtücher sind auf die Klippen geflogen, auch der
kroatische Hut fliegt weg. Wir machen uns auf den Heimweg.
    Wir hätten ihn auch
überhören können, diesen Schrei, das Heulen des Windes war ohrenbetäubend, wie
eine Viehherde auf der Flucht. Er wirbelte den hellen Sand des Weges auf. Noch wenige
Meter, und wir hätten die Kammlinie überschritten, hätten die ersten Häuser des
Ortes gesehen, die Sträucher wildwachsender

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