Das schönste Wort der Welt
rufen, sie hätten es gesehen, und verhöhnen es prustend.
Diego steht auf und
geht mit der Kamera um den Hals weg. Er sieht nach, ob die Eier der Möwen schon
aufgeplatzt sind, schießt von oben die letzten Fotos.
Ich lasse ihn gehen,
doch dann folge ich ihm. Ich zerkratze mir die Beine an den Sträuchern, um ihn
nicht aus den Augen zu verlieren. Er geht schnell, als verfolgte auch er
jemanden. Er kommt am Haus der Musiker vorbei, ihre Instrumente liegen verlassen
unter dem Maulbeerbaum, der zu schlafen scheint, erschöpft von der Hitze und
vom Gewicht seiner Blätter. Die Musiker lungern in ihren Hängematten. Ich
bleibe stehen und spähe verstohlen zu Gojko, er hat die Augen geschlossen, und
sein Arm liegt auf dem nackten Rücken einer Frau. Dann entdecke ich sie, Diego
und Ante. Das Kind hat ihn herankommen lassen, und Diego fotografiert es.
Ich folge ihnen bis
zum Gipfel, bis an den Rand eines Steilhangs, wo sich die Macchia lichtet und
ein Steinhaus steht. Davor sitzt eine magere, zerlumpte Frau, ihre hellen Augen
liegen tief in den Höhlen, reglos wie die eines Blinden. Sie schaut Diego an
und verbeugt sich leicht. Ich sehe, wie sie ins Haus gehen.
Am Abend leeren wir
auf dem Balkon eine Flasche Lombarda und essen etwas Käse, wir haben die
Restaurants über. Ich sage zu Diego, dieses Kind habe etwas von ihm, vielleicht
die Beine, seine Art wegzulaufen.
Am nächsten Tag kaufe
ich Ante zwei T-Shirts und ein Paar Turnschuhe und bringe alles hoch zu seiner
Mutter. An ihrer Brust, die so schlaff ist wie das Euter einer kranken Kuh,
hängt ein weiteres Kind. Sie bedeutet mir, dass es dem Baby nicht gut geht,
dass das kleine Mädchen die Milch nicht schlucken kann. Ich komme mit einer
Tüte voller Lebensmittel wieder, und bevor ich gehe, lege ich ihr alles Geld,
was ich in der Tasche habe, unter eine leere Bierflasche. Sie verzieht das
Gesicht zu einem betrübten Lächeln, zur undankbaren Grimasse mancher
streunender Hunde, die dich anknurren, nachdem du ihnen was zu fressen gegeben
hast. Sie spricht kein Italienisch, versteht es aber. Sie ist aus der Krajina
geflohen und hierher zurückgekehrt, wo sie geboren ist und wo sie diese Hütte
und ihre Mutter hat, eine schwarz gekleidete Greisin, die wir oft auf den
Felsen gesehen haben, wo sie die Ziegen hütet, mit mürrischem Gesicht und einem
beißenden Schnapsgeruch, der ihr in den Kleidern sitzt.
Heute überlässt Ante
Diego seine Hand. Wir gehen mit ihm zum Strand zurück, seine Mutter vertraut
uns jetzt.
»Vielen Dank«, sagte
das Kind, als die Frau ihm vor unseren Augen eine Ohrfeige gab, um es zum
Sprechen zu bringen.
So hörten wir zum
ersten Mal seine Stimme. Das heisere Flüstern einer Möwe.
Jetzt ist es unseres.
Für die restlichen Tage ist es unser Kind. Diego nimmt es an die Hand, hängt ihm
die Kamera um den Hals. Mittags gehe ich Tintenfischspieße kaufen, wir essen
sie am Strand. Das Kind hat Hunger. Jetzt spricht es viel, verstummt niemals,
seine Stimme flitzt los, bekommt Flügel, gerät außer Atem. Wenn es lacht, welkt
das ärmliche Gewebe seines Gesichts vor Dankbarkeit. Wir verstehen nicht alles,
was es sagt, doch wir verstehen, dass es glücklich ist. Jetzt zeigt es Diego,
wie man mit bloßen Händen Fische fängt. Sie stellen sich im Wasser auf wie zwei
Zaunpfähle. Ja, es hat Ähnlichkeit mit ihm, das dachte ich schon beim ersten
Mal, als ich die kleine, wie ein Ei verschlossene Gestalt sah, die am Strand
leicht hin und her schwankte.
Gojko sieht uns mit
dem Kind vorbeigehen, als wir es nach Hause bringen. Wir kommen am Maulbeerbaum
vorüber und an der Forstwache, die Musiker proben, eine Flöte spielt zusammen
mit einer Bratsche. Und Gojko stellt uns seine Sommerliebe vor.
»Das ist Ana.«
Sie hat schwarze
Haare, struppig geschnitten, wie es Mode ist, über einem dicken Gesicht. Und
sie hat die weiße Haut eines Mädchens, das noch nie im Leben in die Sonne
gegangen ist.
Gojko wirft einen
Blick auf das Kind und zuckt mit den Achseln, er weiß, dass es der Sohn jener
tölpelhaften Frau ist, und kann nicht verstehen, warum wir es uns aufhalsen.
Dann, eines Abends,
antworte ich ihm auf seine Frage. Wir sitzen auf den breiten, von den letzten
Sonnenstrahlen überschwemmten Stufen vor einer Kirche. Diego ist am anderen
Ende des Platzes durch das weiße Türchen eines Reisebüros gegangen, wir haben
beschlossen, ein paar Tage länger zu bleiben. Das Pressebüro des Auftraggebers
in Rom hat sich aufgeregt, und Duccio hat
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