Das schottische Vermächtnis: Roman (German Edition)
wieder eine Botschaft vom Duke of Hamilton«, sagte Sophia. Seit dem Frühjahr hatte der Duke der Countess mehrfach geschrieben und in seinem ersten Brief seine Sorge darüber ausgedrückt, dass Mr. Hall Sophia auf dem Markt in Edinburgh aus den Augen verloren habe. Außerdem hatte er die Countess gebeten, ihm ihre Adresse in Edinburgh mitzuteilen, damit er sie besuchen und sich vergewissern könne, dass es ihr gut ging. Worauf die Countess bemerkte: »Er wird sicher enttäuscht sein, wenn er feststellt, dass du wieder bei uns in Slains bist. Hier wird er es nicht wagen, uns die Stirn zu bieten.«
»Nein, das Schreiben ist nicht aus Edinburgh«, sagte Kirsty. »Ein Fischer hat es gebracht, derselbe, der letzten Monat das vom Duke of Perth in Saint-Germain dabeihatte.«
»Gut. Die Countess freut sich immer über Briefe von ihrem Bruder.«
Inzwischen hatte Hugo das Stöckchen zurückerobert, und der Wettlauf begann aufs Neue. Kirsty, die nie lange still sitzen konnte, schloss sich den Kindern an. Sophia blieb allein zurück, hob das Gesicht der Sonne entgegen und schloss die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, entdeckte sie voller Erstaunen die Countess, die sonst nur selten an den Strand ging. Ihre Miene erinnerte Sophia an die Gesichter der Frauen, die ihr damals gesagt hatten, dass ihr Vater und ihre Mutter nie wiederkommen würden.
»Ich bringe schlechte Nachrichten von Mr. Moray«, teilte die Countess ihr mit.
Sophia vergrub die Finger im Sand.
»Er ist gefallen.«
Sophia schwieg.
»Es tut mir leid«, sagte die Countess.
»Wie?«, fragte Sophia nur.
»In einer Schlacht bei Malplaquet. Ein schreckliches Gemetzel, schreibt mein Bruder in seinem Brief.«
»Malplaquet«, wiederholte Sophia. Der Name lag fremd und schwer auf ihrer Zunge.
Was die Countess sonst noch sagte, hörte Sophia nicht mehr. Suchend richtete sich ihr Blick aufs Meer.
Über ihr kreisten Möwen, deren Kreischen sich mit den Rufen der Kinder vermischte. Als Annas Lachen erklang, rollte die erste Träne über Sophias Wange.
Eigentlich wollte ich nicht in den Umschlag sehen, den Graham mir gegeben hatte und der nun so weit von mir entfernt auf dem Tisch lag wie nur irgend möglich, aber ich wusste, dass mir keine Wahl blieb. Der lange Ärmel von Grahams Rugby-Shirt rutschte mir über die Hand, als ich sie nach dem Kuvert ausstreckte. Ich schob ihn zurück und zog es heran.
Der Stammbaum begann mit dem ersten bekannten Vorfahren der Morays und illustrierte ihre verzweigten Verwandtschaftsverhältnisse, ähnlich wie in den Übersichten, die man in Geschichtsbüchern für Königshäuser findet.
Die Morays von Abercairney waren offenbar ein ziemlich aktives Völkchen gewesen, so dass ich eine ganze Weile brauchte, bis ich mich zu John, seinem Bruder, dem zwölften Laird, seinen beiden Schwestern Anna und Amelia sowie zwei anderen Brüdern vorgearbeitet hatte.
Wenige Worte besiegelten sein Schicksal: »Erlag seinen Wunden …«
Obwohl die Schlacht keine Erwähnung fand, wusste ich durch meine Erinnerungen, denen ich inzwischen blind vertraute, dass Moray in Malplaquet gefallen war. Mir sagte der Name des Ortes mehr als Sophia, weil ich Churchills lebhafte Beschreibung des Kampfes in dem Teil seiner Schriften gelesen hatte, in dem es um den Duke of Marlborough, einen seiner Vorfahren, ging. Ganz Europa war damals über das Gemetzel entsetzt gewesen. Selbst Marlborough, ein altes Schlachtross, hatte die Bestürzung darüber laut Churchill für immer verändert. Es sollte hundert Jahre dauern, bis in einer einzigen Schlacht wieder so viele Männer fielen.
John Moray und Sophia waren zwei von vielen, und noch ein halbes Jahr zuvor hätte ich die Fakten leidenschaftslos zur Kenntnis genommen. Doch nun war das nicht mehr möglich. Ich legte die Seiten weg. Der Computer wartete darauf, dass ich ihn mit dem nächsten Teil der Geschichte fütterte, aber dazu war ich nicht in der Lage. Ich stand auf, um mir einen Kaffee zu kochen.
Draußen ging zögernd die Wintersonne am Himmel auf. Durchs Fenster beobachtete ich, wie sich trübes, nebliges Licht über die Landschaft legte und die Wellen mit weißen Schaumkronen am Strand ausliefen.
Vor meinem geistigen Auge sah ich Sophias einsame Gestalt am Ufer, die blonden Haare unter einem Tuch, den traurigen Blick aufs Meer gerichtet.
Auch als der Wasserkessel pfiff, konnte ich mich nicht von diesem Bild losreißen. Es würde mich verfolgen, bis ich die Geschichte zu Ende geschrieben
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