Das schottische Vermächtnis: Roman (German Edition)
das Kind verlassen?«
»Ja.«
»Könnte sie es denn nicht irgendwie behalten? Als meine Mutter starb, waren Stuart und ich der einzige Trost für meinen Vater. Ein Mensch in Trauer ist wie ein Ertrinkender: Wenn er sich an nichts klammern kann, verliert er die Hoffnung.«
Da pflichtete ich ihm bei. »Aber für meine Heldin ist die Sache nicht so einfach.« Ich erklärte ihm die Situation und machte meinen nächsten Zug.
Er ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen. »Ich würde sie das Kind trotzdem behalten lassen.«
»Nun, du bist ein Mann, und Männer denken anders. Für eine Frau Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wäre es mit Sicherheit schwierig gewesen, ein Kind allein aufzuziehen.«
Er schob seine Königin vor und nahm mir meinen Läufer.
»Und was«, fragte ich, »willst du machen, wenn mein Bauer es auf die andere Seite schafft und ich meinen Läufer zurückfordere?«
Graham grinste. »Schafft er aber nicht, denn ich sage ›Schach‹.«
Er hatte recht. Auf den ersten Blick konnte ich keine Möglichkeit erkennen, meinen König in Sicherheit zu bringen, aber weil ich noch nicht »schachmatt« war, musste es eine geben …
»Ich würde ihr jemand an die Seite stellen«, schlug Graham vor. »Lass sie einen anderen Mann kennenlernen, den sie lieben kann.«
»Aber sie will keinen anderen.«
Obwohl ich wusste, dass Sophia nur ein Jahr nach den Geschehnissen, die ich in meinem Buch beschrieb, meinen Vorfahren geheiratet hatte. Warum?, fragte ich mich.
Vielleicht lag die Lösung für mein Problem nicht in Slains. Plötzlich wurde mir alles klar. Ich verschob eine Figur auf dem Schachbrett, so dass mein König durch einen Bauern geschützt war und der Weg für meinen zweiten Läufer frei wurde. »Schachmatt.«
Graham sah mich erstaunt an. »Wie zum Teufel hast du das gemacht?«
Offen gestanden, wusste ich das selbst nicht. Aber eines ahnte ich: Ich würde ähnlich wie Sophia nach Kirkcudbright fahren müssen, weil dort das Ende meiner Geschichte auf mich wartete.
Achtzehn
Da es in Kirkcudbright keinen Bahnhof gab, fuhr ich mit dem Zug zum nahe gelegenen Dumfries. Ich wusste nicht, was mich erwartete, vielleicht so etwas wie eine Offenbarung, nun, da ich mich in der Gegend befand, in der Sophia geboren und aufgewachsen war. Aber ich konnte nichts Interessantes entdecken.
Es taute, und der Wind fühlte sich fast sanft an auf meinem Gesicht.
»Carrie!«
Ich hatte Ross McClelland nie persönlich kennengelernt, mir aber im Lauf der Jahre ein Bild von ihm gemacht, das meinem Vater ähnelte. Doch der Mann, der jetzt auf mich zukam, sah ganz anders aus. Er war groß und kräftig, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, dichtes, welliges Haar und einen grauen Bart mit Resten von Schwarz darin. Ich hätte ihn nicht für einen Verwandten gehalten.
Er jedoch erkannte mich.
»Meine Frau hat alle deine Bücher«, begrüßte er mich. »Du siehst genauso aus wie auf dem Klappenfoto. Ist das dein ganzes Gepäck?«
»Ja. Wie geht’s deiner Frau?«, fragte ich ihn, als er mir den Koffer abnahm und mich zum Parkplatz dirigierte.
»Ein bisschen besser. Sie hat immer wieder mal schlimme Gichtattacken und kann sich dann kaum noch rühren. Aber heute Morgen ist sie wenigstens aufgestanden, weil ihre Schwester zu Besuch kommt.«
Ich hatte Ross’ Angebot, bei ihm zu übernachten, nicht angenommen, weil ich wusste, dass seine Frau krank war, und stattdessen ein Hotelzimmer gebucht.
Aber er ließ es sich nicht nehmen, mir die Gegend zu zeigen.
Wir fuhren durch eine Hügellandschaft mit Schafen, schwarz-weißen Galloway-Rindern und dunklen, grünen Bäumen, deren Äste sich manchmal über der Straße trafen, so dass ich das Gefühl hatte, mich in einem Tunnel zu befinden. Den ersten Zwischenstopp legten wir bei einem Landfriedhof ein, wo uns fröhliches Vogelgezwitscher begrüßte.
»Da wären wir«, sagte Ross und deutete auf einen kleinen, schiefen Grabstein. »Hier liegt deine Anna Mary Paterson.«
Ich kniete nieder, um den Stein genauer zu betrachten. Er war dick mit Flechten bewachsen, und die Inschrift ließ sich kaum noch entziffern.
»Ich bin eher aus Zufall drüber gestolpert. Allzu viele so alte Steine findet man nicht mehr, und bei den meisten kann man die Inschrift nicht lesen.«
Der Friedhof kam mir irgendwie bekannt vor. Als ich den Blick schweifen ließ, entdeckte ich eine dunkle Stelle in der Nähe eines Waldes, und mir stellten sich die Nackenhaare auf. »Stand da drüben mal ein Haus?«,
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