Das Schützenhaus
einen Schal um den Hals gewickelt, die Treppe herunter. »Verläßt du uns?« fragte er.
Anneli sprang auf. »Geh sofort ins Bett«, schimpfte sie. »Wir müssen was besprechen. Das ist nichts für dich.« Horst drehte sich um und stiefelte die Treppe wieder rauf.
Mein Vater fragte: »Wann mußt du fort?«
»Morgen früh spätestens. Eigentlich hätte ich heute schon …«
»Morgen früh reicht«, unterbrach mich Tante Deli. »Die Züge verkehren unregelmäßig. Weiß man überhaupt, ob du durchkommst? Die Bahnlinie soll bereits unterbrochen sein.«
»Woher hast du das?« fragte ich.
»Von BBC.« Tante Deli hörte den englischen Sender.
»Du solltest das lassen«, sagte mein Vater, »inzwischen erschießen sie Menschen deswegen.« Er wendete sich zu mir: »Sie erschießen Menschen auch wegen anderer Dinge. Zum Beispiel wegen Fahnenflucht. Ich bin dafür, daß du fährst.«
»Ausgeschlossen«, warf Anneli ein.
Doch Joachim gab meinem Vater recht: »Es ist am ungefährlichsten, wenn Hansi fährt.«
»Und die Bomben unterwegs?« fragte Anneli. »Die Tiefflieger? Sie beschießen die Züge. Auf freier Strecke.«
Wieder sagte niemand: »Toi, toi, toi, unberufen.«
Die Sirenen heulten, wir rafften unsere Habseligkeiten zusammen. Die Frauen wickelten die Kinder in Decken. Ein Lichtschein fiel nach draußen, als wir die Tür passierten. »Licht aus«, rief jemand, »Verdunklung!«
Tante Deli knipste das Licht aus. Wir stolperten über die Wiese, die alter, harschiger Schnee bedeckte, in den Splittergraben. Routine, jede Nacht saßen wir jetzt hier unten, stundenlang, manchmal auch am Tag, wenn die Amerikaner Angriffe auf die Reichshauptstadt flogen.
Der Angriff hatte kaum begonnen, als eine Serie von Luftminen in der Nähe niederging. Es war, als ob sich der Splittergraben hob und dann wieder in seine alte Lage zurückfiel.
Helga und Stefan weinten. Robinson Krause murmelte: »Diesmal sind wir dran.« Was Tante Deli veranlaßte zu sagen: »Halten Sie doch die Klappe, Sie oller Kullerpucker.«
Jemand lachte, in der Dunkelheit wußte niemand, wer lachte, es waren Fremde mit uns in den Graben geflüchtet. Mein Vater meinte, er wolle nachsehen, was mit dem Schützenhaus und dem Kino sei. Tante Deli wollte ihn zurückhalten, aber er war bereits auf den Stufen. Joachim ging ihm hinterher. Nach einer Minute rief er zu uns herunter: »Der Kintopp brennt. Die Männer sollen zum Löschen kommen. Die Frauen bleiben unten bei den Kindern.«
Wir stolperten über Gepäckstücke. Robinson hielt sich an meinem Jackenärmel fest. Andere Männer folgten.
Draußen war es fast taghell. Scheinwerfer suchten den nächtlichen Himmel ab, vier oder fünf hatten ein Kreuz gebildet. In der Schnittfläche der Strahlen blinkte ein Flugzeug. Der Bomber flog Kurven, um aus dem Strahl zu entweichen, aber die Scheinwerfer holten ihn immer wieder ein. Die Bäume streckten ihre bengalisch beleuchteten Äste nach oben, der Schnee flimmerte. Motorengebrumm, Abschüsse der Flakgeschütze. Eine Schar Spatzen schimpfte, deutlich hörbar immer wieder zwischen all dem Lärm.
Die Beleuchtung stammte von einem Brand, der sich an derGiebelwand des Lichtspielsaals hochfraß. Bretter flammten auf, eine Funkengarbe regnete herab. Wir liefen auf die Stelle zu, wo wir Vaters und Joachims Silhouetten vor der Feuerfront sahen.
Das Kino war mit einem Hydranten ausgerüstet. Doch der Hydrant befand sich in der Eingangsnische, dort züngelten Flammen. Sie verzehrten ein Plakat, das Willy Birgel auf seinem Apfelschimmel Hanko zeigte. »… reitet für Deutschland«, hatte daruntergestanden. Aber die Schrift war bereits vom Feuer weggefressen. Willy Birgel krümmte sich in der Hitze, dann war auch er verschwunden. Joachim stürzte in den Eingang. »Halt«, rief mein Vater, »bleib stehen, verdammt noch mal.« Aber Joachim war im Rauch verschwunden. »Eimerkette«, rief mein Vater und lief ebenfalls auf die Flammen zu. Doch da erschien bereits Joachim, entrollte den Wasserschlauch. Er hatte sofort den Hahn geöffnet. Der Schlauch füllte sich mit Wasser, sprang Joachim aus der Hand. Ein Wasserstrahl durchnäßte meinen Väter.
Wir fingen den Schlauch ein. »Alles in Butter?« rief ich Joachim zu. Was anderes fiel mir nicht ein. Joachim nickte. Wir richteten den Wasserstrahl auf die Kinowand. »Von unten her«, rief Joachim. Er meinte, daß wir die unteren Flammen zuerst löschen sollten. Ich rief: »Und wenn das Feuer aufs Dach überspringt?«
»Unten«,
Weitere Kostenlose Bücher