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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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»bereute«, schämte ich mich.
    Während ich mich schämte und meine schwerwiegende deutsche Seele vor mir hertrug, daß sie mir das Gesicht herunterzog, belegte Tante Deli ihres mit Gurkenscheiben, um schön zu bleiben. Mein Vater, dem die grauen Haare unter dem Schiffchen mit Kokarde hervorstanden, lachte darüber. »Berlin verbrennt, die Großgörschenstraße ist eine Ruine, wir sind bald dran, und du legst dir Gurken auf die Backen.«
    Er meinte Wangen, aber kein Berliner sagte Wangen, auch kein später eingemeindeter. Tante Deli meinte: »Wenn alles vorbei ist, meinst du, ich will wie eine alte Jule aussehen? Die Frau pflegt sich, auch in schweren Zeiten. Gut, Dem Lippenstift haben wir entsagt, weil der Führer es wollte – «
    »Weil ich Gila-Monster rausgeschmissen habe«, warf mein Vater ein.
    »Wir wollen die ollen Kamellen nicht aufwärmen«, fuhr Tante Deli fort. »Wo war ich stehengeblieben? Eine Frau kann auch schön sein ohne Lippenstift. Wenn ich eines Tages diese Trainingshosen vom Hintern kriege, wirst du staunen.«
    Legst du da auch Gurkenscheiben auf? wollte ich eigentlich fragen, aber ich schwieg, um das Thema zu beenden.
    Wie hatte mein Vater gesagt? »Wir sind bald dran.«
    Niemand von uns besaß die Geistesgegenwart, Bedrohungen durch Gegenzauber zu bannen, wie es unsere Großmutter getan hatte. Lief ihr eine schwarze Katze über den Weg, so kehrte sie um. Stand Krebs im Kalender, so wurden die Erbsen nicht ausgesät, die Salatpflänzchen nicht gesetzt. Begegnete ihr ein Buckliger, so berührte sie den Buckel, und wenn sie dafür über die Straße gehen mußte.
    Auf die Bemerkung meines Vaters hin hätte sie sofort gerufen: »Unberufen, toi, toi, toi!« und dreimal dazu ausgespuckt. Wir hatten das unterlassen.
    Ein Teil dessen, was uns, gemessen an anderen, erspart geblieben war, ballte sich an einem einzigen Tag, einem Donnerstag, zusammen. Da weder der grüne Waggon noch unsere Wohnung in den ehemaligen Pferdeställen sich genügend heizen ließen, gluckten wir wieder im Schützenhaus zusammen. Eben saßen wir beim Frühstück, als der Postbote vorfuhr. Er stellte sein Rad ab, sprang die Verandastufen hinauf, trat ein. Wir sahen ihn an, wußten, er war ein Schicksalsbote, wenn auch getarnt durch die Uniform der Reichspost, die er trug, nicht ganz vorschriftsmäßig, aus den Ärmeln seiner Jacke ragten graue Pulswärmer.
    Auf wen würde er zugehen?
    Der Post- und Schicksalsbote wählte mich aus. Überreichte mir ein braunes Kuvert mit Aufdruck: »Frei durch Ablösung Reich«.
    »Unterschreiben Sie hier«, sagte der Überbringer, indem er einen Zettel neben mich auf das Tischtuch schob.
    Ich unterzeichnete. Längst wußte ich, wußten die anderen, daß sich mein Gestellungsbefehl in dem Umschlag befand. Ich riß ihn auf.
    »Und?« fragte Anneli.
    Der Gestellungsbefehl lautete auf eine Luftwaffeneinheit in Husum. Der Marschbefehl lag bei.
    Alle redeten durcheinander, jeder zeigte das Bedürfnis, sein Erstaunen auszudrücken. Erstaunen darüber, daß mich in einem Augenblick, da »der Russe« auf Berlin anrückte, Amerikaner und Engländer an der Elbe standen, das Vaterland in Husum brauchte.
    Als sich die Aufregung gelegt hatte, fragte Helga: »Papa, was ist Husum?«
    Du graue Stadt am grauen Meer. Ich hätte unserer Tochter das Gedicht von Theodor Storm auswendig hersagen können, seit Schultagen saß der Text fest in meinem Kopf verankert. Ich holte einen Atlas von oben, aus dem Zimmer meines Vaters, der während seiner nun seltenen Oblomow-Stunden auf der Landkarte das Näherrücken der Front mit den dicken Strichen eines Zimmermannsbleistifts markierte.
    Ich zeigte Helga, wo Husum lag. »Da oben?« fragte sie. »Alles ist grün auf der Karte. Gibt es da Kühe?«
    Es gab Kühe. Und irgendwo einen Fliegerhorst, auf dem sie Soldat Pommrehnke erwarteten. Immer noch Soldat Pommrehnke. Durch mein Zwischenspiel als Sonderführer hatte ich nicht einmal den Dienstgrad eines Gefreiten oder Obergefreiten erreicht. Anneli wollte zu meinem Vater aufs Gut radeln. Vielleicht konnte er sich am Abend von seinem überflüssigen Dienst freimachen.
    »Es gibt allerlei zu besprechen«, sagte Anneli.
    Wirklich kam mein Vater am Abend zu uns herüber, er hatte offiziell Urlaub erhalten, bis vierundzwanzig Uhr.
    Anneli meinte, es würde nicht auffallen, wenn ich untertauchte. »Ede würde uns helfen«, sagte sie. »Wozu gibt es Regimentskameraden? In der Laubenkolonie sucht dich niemand.«
    Horst kam, im Pyjama,

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