Das Schützenhaus
den ganz Berlin summte, trotz oder gerade wegen der lausigen Zeiten. Es war kalt. Wir fällten Bäume im Park und heizten damit die Gaststube und unser Soldatenkino. Manchmal bekam das Kino eine Kohlezuteilung. Einmal rettete uns Eichelkraut. Er lieferte eine Fuhre Torf an. »Bezahlung im Frieden«, scherzte er.
Kein neuer Einberufungsbefehl. Ich rührte mich nicht. Vielleicht war ich wieder durch die Maschen geschlüpft?
Zum Kinobesuch marschierten die Soldaten auf der Chausseeheran, im Gleichschritt, mit Stahlhelm und Gasmaskenbüchse. Mein Vater und sein Freund Ede, die immer öfter auf Fahrrädern vom Gutshof kamen, sahen durch die Fenster der Gaststube dem Anrücken der Kinokolonnen zu. »Immer noch zackig«, sagte mein Vater. »Aber es nützt nichts mehr.«
Ede nickte. Er nickte mechanisch, als werde sein Kopf von einem Motor angetrieben. »Sinnlos …«, murmelte er.
Jenes laue Glücksgefühl hätte sich wieder einstellen müssen, das Hand in Hand geht mit dem Bewußtsein, daß ich in diesen hehren Zeiten unbemerkt in einer Nische lebte, daß es uns gelungen war – oder daß es sich ergeben hatte –, die meisten Mitglieder der Familie wiederum im Schützenhaus zu versammeln. Möglicherweise hielten wir durch bis zum Ende?
Dieses Gefühl stellte sich nicht ein. Statt dessen empfand ich etwas wie Reue. Nicht Reue über einzelne Punkte meines Verhaltens, obwohl auch dies eine Rolle spielte. Eine generelle Reue brach in mir aus. Versuchte ich, in diesen Wust von Empfindungen, der mich traf, mich überschüttete wie eine Lawine, Ordnung zu bringen, so stand an oberster Stelle Anneli. Liebte ich Anneli wirklich? Und was war wirkliche Liebe? Wo erfuhr man, wie sie aussah, wie man sie lebte? Liebte Anneli mich? Wie standen wir zu unseren Kindern?
War nicht alles aus Gewohnheit entstanden, dahingeschleppt, verschenkt, vernachlässigt, mit einem Mangel an Bewußtsein und Empfindung gelebt?
Wenn wir davonkamen: Wohin sollte das führen? Wie sollte es weitergehen?
Diese Gedanken okkupierten mich, man muß es mir angesehen haben, niemand sprach mich jedoch darauf an, daß ich verändert wirkte.
Der zweite Reuekomplex betraf Joachim, er bestand aus zwei einander entgegengesetzten Denk- und Empfindungssträngen. Zuerst überdachte ich, daß ich nie ganz für ihn, für seine Kinoidee eingetreten war. Andere in unserem Alter, ja sogar mit weniger Voraussetzungen, hatten es zu Kinopalais in der Innenstadt gebracht, sie waren angesehen, ihre LichtspielpalästePremierenkinos, die Zeitungen berichteten über sie. Mit etwas mehr Geld, als unser Vater in diese Klitsche namens Schützenhaus gesteckt hatte, hätten wir das erreichen können, besonders in jenen Tagen, als Leberecht Lehmann uns förderte. Wie weit diese Förderung gereicht hatte, überblickte ich erst jetzt. Hätte ich nicht mehr tun, mich stärker einsetzen müssen?
Gleichzeitig spürte ich Reue, daß ich meine Modellbauer-Karriere aufgegeben, mich in den pseudosicheren Schoß des Familienunternehmens geflüchtet, diesen lachhaften Persönlichkeitskult meines Bruders unterstützt hatte, der sich als einziger in die Zukunft blickender Cineast des Deutschen Reiches (noch!) gerierte und dabei nichts anderes tat, als stupiden, übermüdeten Landsern und Flaksoldaten Filmchen vorzuführen, die jeder andere ihnen genauso hätte zeigen können. Gewiß, ab und zu rief Joachim: »Méliès!« oder »Fritz Lang!«. Was aber war von dem übriggeblieben, was ich so lange als Charisma an ihm empfunden hatte?
Immer gebückter lief ich in meiner Uniform herum, die keine war, offensichtlich für alle, daß Großdeutschland mich für den Endsieg genausowenig brauchte, wie dieser läppische Barackenkintopp mich brauchte.
Ich überprüfte meine Einstellung zu unseren Freunden. Schamröte überzog mein Gesicht, wenn ich daran dachte, wie wir Sternchen Siegel hatten ziehen lassen, wie ich seinen Anteil eingesteckt hatte. Wie uns überdies die Verwaltung nichtarischen Vermögens über den Löffel barbiert hatte.
Und Leberecht Lehmann. Hatte ich mich um ihn gekümmert? Hatte ich jemals nachgefragt, wo er geblieben sei, bis wir von Kitty hörten, er sei im Ausland? Hatte ich mich danach um Kitty gekümmert? Es hieß, sie sei nach Schweden gegangen, Zarah Leander habe ihr dabei geholfen. Hatte Kitty Zarah Leander gekannt? Wir hatten, ich hatte nichts davon erfahren, aus Interesselosigkeit.
Untrennbar zu alldem gehörte, wie ich mich in meine Nische als Filmer von
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