Das Schützenhaus
wir es damals besprochen haben. Beim ersten Besuch.«
Anneli fragte: »Wozu braucht ihr ein Baumhaus? Ihr sitzt oben drin und spuckt mir auf die Birne.«
»Auf den Kopf, heißt das«, rügte Joachim. »Bei uns wird hochdeutsch gesprochen.«
»Ach, nee, und Sternchen Siegel? Wie spricht der?« Sie machte Sternchen nach: »Werdden werr gleich sehn, Gnädigste. Wird alles jerichtet werden nach Ihre Intentionen.«
»Sternchen, der jüdelt«, sagte Joachim.
Damit konnte ich wieder nichts anfangen, und Anneli, das sah ich an ihrem Blick, genausowenig. Gut. Es gab Judenwitze, also gab es Juden, wie es Franzosen gab, die Erbfeinde, die unseren im Felde unbesiegten Truppen eingeheizt haben – oder Chinesen oder Österreicher. Wir hatten einen Österreicher in der Klasse, auch der sprach anders als wir. Gelegentlich kam sogar ein Neger ins Schützenhaus, ein stiller Herr mit grauen Schläfen, Mister Wilson. Der aber war, wenn wir unseren Vater richtig verstanden hatten, ein Preuße, denn er hatte bei den Husaren als Kesselpauker gedient. Auf einem Panoramafoto, das die Leibschwadron zeigte, war Mister Wilson auf einem Apfelschimmel abgebildet, die Kesselpauken links und rechts neben dem Sattel. Mister Wilson hob die Paukenschlegel und blickte in die Kamera. Wie sollte man sich da auskennen? In der Schule nahmen wir die Spartaner durch, ihr Verhalten wurde uns als beispielhaft dargestellt, längst, bevor sie »der Jugend der Nation als Vorbild« dienen mußten.
Sternchen kam auf seiner blitzenden Maschine angepeest, den Mützenschirm nach hinten gerückt. Er hatte eine neue Mütze mit einer Bommel oben.
Das war also ein Jude. So interessant wie Mister Wilson war er nicht. Jedoch – unser Freund.
In den folgenden Tagen, wenn wenig Betrieb war, sahen wir die Erwachsenen um den runden Stammtisch sitzen und, wie Joachim es nannte, »was besprechen«. Wie wir gelegentlich Bruchstücken ihrer Unterhaltung entnahmen, ging es um unsere Reise nach Lindow. Ede Kaiser saß da, Bier und Schnaps vor sich. Sein Schwager Hubert, der Bierfahrer, hatte den Pferden ihre Haferbeutel umgehängt und saß daneben. Auch Sternchen sahen wir in der Runde. Seiner Gewohnheit entsprechend glitt er seitwärts auf einen Stuhl und stand bald wieder auf, zapfte Getränke, stellte sie auf den Tisch. Setzte sich wieder. Er trank Apfelbrause. Tante Deli stützte die nackten Arme auf den Tisch. Anscheinend war sie jetzt einverstanden, daß wir fuhren. Es waren Ferien, niemand achtete auf uns. Trotz des strahlenden Sonnenscheins draußen hockten wir im Kinderkino. Stundenlang sahen wir uns die alten Filme an. Und ein paar neue, die Sternchen für uns aufgetrieben hatte. Es waren ebenfalls Chaplin-Filme wie der eine, den wir gefunden hatten. Wir blickten auf die Leinwand und sahen Charlies Späßen zu.
Manchmal kam Werner Spiehr zu uns in den dunklen Saal, ein Freund von Sternchen. Im Gegensatz zu Sternchen trank Werner Spiehr Bier, und zwar in Mengen. Fünf oder sechs Mollen brauche er, sagte Werner. Dazu ein paar Klare. Er setzte sich zu uns ins Dunkel, eine Molle, frischgezapft, in der Hand, den Schaum oben drauf. Dann erklärte er uns die Filme wie einer im richtigen Kino.
»Was macht Charlie?« fragte Werner. »Er fährt nun mittenmang den Güterwagen unten durch, denn er kann nicht bremsen, der Zug dampft über den Bahnübergang. Da seht ihr: Charlie verliert das Verdeck. Die Windschutzscheibe. Beinahe auch die Melone, aber die hält er fest. Sonst würde man ihn ja nicht erkennen, stimmt’s?«
Wir lachten. Draußen glühte der Sommer. Er ging uns nichts an.
Eines Morgens stand Ede Kaiser mit seinem Mietwagen vor der Tür, einem blauen Sechszylinder-Chevrolet. »Jute Idee, Kamerad«, sagte er zu meinem Vater, »ick besuche bei der Jelegenheitmeine Verwandten.« Die wohnten ebenfalls in Lindow, ganz in der Nähe unserer Großeltern. So hatte Ede Kaiser seinem Regimentskameraden Pommrehnke einen billigen Preis machen können. Wie ich später erfuhr, wurde er in Goldmark entlohnt, mein Vater hütete noch einen Schatz wertvoller Münzen aus Kaisers Zeiten. Aus Wilhelm zweis Zeiten, Ede Kaiser nahm solche Währung natürlich lieber als Papiermark. In gängiger Währung hätte unsere Reise Billionen gekostet.
Anneli durfte vorn neben dem Fahrer sitzen. Sie hatte ihre Puppe mit den Schlafaugen mitgenommen und den mit Holzwolle gefüllten Hund. Auf ihre Füße legte sich Zeppelin. Keinem von uns wäre die Idee gekommen, Zeppelin zurückzulassen.
Auf
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