Das Schützenhaus
romantischen Parklandschaft, eine zersplitterte Säule, eine Marmorurne, üppig Zweige ausstreckende Bäume. Unter dem Bild, auf dem Rand des starken Pappdeckels, dem die Fotografie aufkaschiert ist, der Namenszug des Fotografen: Othmar Anschütz. Hoffotograf, steht dabei, er durfte diesen Titel führen. Wahrscheinlich hat er den Kaiser fotografiert, in aller Pracht, bevor der zum Holzhacken fuhr. Und die Kaiserin und den Kronprinzen mit seiner schönen Frau.
Hier: unsere Mutter. Ich nahm die Fotos mit und zeigte sie Anneli.
»Sie war schön, eure Mutter«, sagte Anneli.
Wirklich? Ich wußte es nicht. Eine Mutter war nicht schönoder häßlich, solche Maßstäbe, meinte ich als Kind und noch als Heranwachsender, legte man nicht an. Entzauberung trat ein, wenn man die Mutter in Kategorien einordnete, die für Teilnehmerinnen von Tanzveranstaltungen angemessen waren.
So war für mich auch unser Vater DER VATER. Er hätte ein Denkmal sein können. Daß er gelegentlich sprach – und meistens, weiß ich heute, Banales –, tat dem Nimbus keinen Abbruch.
Dadurch, daß er Vater war, zählte er auch nicht zu den Männern im üblichen Sinn. Wie könnte er, dieser Riese in jeder Hinsicht, verwickelt sein in Machenschaften und Umstände, die mit jenen Dingen zusammenhingen, von denen sie in der Schule flüsterten? Hätte er je, wie Joachim und ich, sich erniedrigt und wäre vors Lyzeum geschlichen, um die Mieken zu sehen? Die »Lyzen«, wie wir zuweilen sagten?
Wie war das zwischen unserer Mutter und unserem Vater? Wir waren auf der Welt, seine zwei Jungs. Ich verdrängte, daß dies – mindestens zweimal! – Gemeinsamkeiten erforderte. Den Verdacht, unsere Existenz könne mit dem Wort Beischlaf zu tun haben, das ich in Bejamins Lexikon nachgeschlagen hatte, wies ich von mir.
Wer half mir? Lieschen Radke ließ sich zwar, versicherten Klassenkameraden, gegen Geld an das fassen, was sie Unterhose nannte. Aber sie war nicht bereit, mich mit Worten aufzuklären. Immer noch wußte ich nicht, was poussieren war. Dieses Angrapschen in der Stallecke und Lieschens verdrehte Augen – das konnte doch nicht gemeint sein? Und was ihren Hinweis auf Handbetrieb betraf, hegte ich neuerdings einen Verdacht, der mir die Lippen verschloß. Keine Frage, keine Antwort.
Oder doch eine Antwort?
Der Flur, der die oberen Räume des Schützenhauses – unsere Wohnung – mit dem sogenannten Eßzimmer verband, lag nachts im Dunkeln. Doch wurden wir bald nach dem Einzug mit seiner Landschaft vertraut, denn oft, wenn der Betrieb unten in der Gaststube uns nicht einschlafen ließ, schlichen Joachim und ich, manchmal auch Anneli, die Treppe runter in dieAnrichte. Dort standen Kisten mit Getränken. Wir schleppten Brauseflaschen nach oben und tranken sie im Dunkeln, das Prickeln der Kohlensäure in der Mundhöhle. Wir wußten, daß es etwa in der Mitte des Korridors ein Brett gab, das knarrte, und mieden es. Indianergleich schlängelten wir uns an offenen oder geschlossenen Türen vorbei. Manchmal ging entweder unser Vater oder Tante Deli früher nach oben und legte sich nieder – »einer muß auf dem Posten sein morgen früh«. Anneli gehörte zum selten anzutreffenden Typus der Hackengänger. Entsprechend hatte sie Schwierigkeiten, wenn sie über den Korridor pirschte: »Ich muß immerzu daran denken, daß ich die ganze Fußsohle aufsetze«, beschwerte sie sich. »Wieso habe ich diese Hacken?«
»Als Indianer bist zu schwach«, sagte Joachim. Ich tröstete Anneli: »Wenn du nicht gehen willst, weck mich. Ich bringe dir deine Brause.« Ein bißchen war ich, denke ich heute, in unsere kleine Cousine verliebt. Ihre Augen blitzten mindestens so wie die Augen von Radkes Lieschen. Der Vorteil war, daß Anneli mit uns umging als sei sie ein Junge wie Joachim und ich. Joachim beachtete unsere Cousine weniger, er lebte versponnen in seinen Gedanken, die um das Kino kreisten. Sein Blick durch die Brille war oft abwesend, wenn er auch Annelis Planungen schätzte, die uns zu gemeinsamen Mahlzeiten am Tisch unten in der Gaststube zusammenführten. Es war ihm anzusehen, er lächelte Anneli zu, bevor er sorgfältig und umständlich mit dem Messer an seinem Schnitzel säbelte.
Für mich bedeutete Anneli mehr, obwohl ich es damals nicht hätte formulieren können. Sie brachte Licht in unser Leben, heute würde ich sagen: ein Funkeln, wie wenn die Sonne auf die Kristalle eines Lüsters trifft.
Nun, wir besaßen keinen Lüster, nur dieses Hirschgeweihmonstrum
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