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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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oben in der Stube. Aber dieses Licht, dieses Funkeln, das von Anneli ausging, das nahm ich wahr. Anneli muß damals zehn Jahre alt gewesen sein, vielleicht fast elf, die Zeit verging, mein Bruder schrieb Zettel mit Geburtstagswünschen, immer handelte es sich um Filme oder um Teile für seine Apparate.
    Ich stand in der Mitte zwischen beiden, meinem Bruder und Anneli gleichermaßen zugewendet, wenn auch auf unterschiedliche Art. Ich stahl mich in Annelis Zimmer, sie schlief, wobei sie die Glieder auf groteske Art verrenkte. Manchmal stand ein Bein vom Knie ab senkrecht hoch, manchmal hing ein Arm aus dem Bett, aber nicht schlaff wie bei anderen Menschen, sondern in einem Winkel nach oben. Als gebe es die Schwerkraft nicht für Annelis Glieder. Ihre Oberlippe schob sich im Schlaf hoch und entblößte Zähne, die im Dunkeln schimmerten. Fast immer wachte sie auf, wenn ich neben ihrem Bett stand. »Soll ich dir Brause mitbringen?« Sie nickte. Ich begab mich auf den Kriegspfad, vulgo Korridor, vermied das knarrende Brett und holte Brause. Anneli war wieder eingeschlafen, die Haare hatte sie hinter die Ohren zurückgestrichen, die abstanden wie auf der Karikatur eines Lausejungen.
    »Wir müssen das operieren«, sagte Tante Deli manchmal. »Man schneidet irgendwas durch, und klapp!, liegen die Ohren an.«
    Anneli errötete jedesmal, die Sache wurde sofort wieder vergessen, bis zur nächsten Erwähnung, die ebenfalls ohne Folgen blieb. Zu Anneli gehörten diese Ohren, die nichts von jenen Kräften hielten, die gewöhnliche Menschen zwang, ihre Glieder der Schwerkraft unterzuordnen oder ihre Ohren anzulegen.
    Ich stellte eine Brauseflasche neben ihr Bett, meistens stand die Flasche am nächsten Morgen unberührt da. Die zweite Flasche brachte ich meinem Bruder. Irgendwann in der Nacht wachte er auf, manchmal wurde ich von seinem Schmatzen wach, er beherrschte mangelhaft die Kunst des Aus-der-Flasche-Trinkens. Ich nahm einen herzhaften Schluck, bevor ich mich zurücklegte, das Bild der schlafenden Anneli vor Augen, eine Mischung aus Vorstellung und Erinnerung von mondhellen Nächten.
    Einmal bemühte ich mich um besondere Lautlosigkeit auf dem Limonadengang, denn aus dem Zimmer meines Vaters fiel, obwohl es sehr spät war, ein Lichtschein. Ich mußte den weißen hellen Streifen, den das Licht auf den Flur warf, kreuzen, einegefährliche Situation, falls mein Vater wach war. Ich schnüffelte, ob ich Zigarrenrauch roch. Nichts dergleichen. Wahrscheinlich schlief er. Hatte nur vergessen, die Lampe auszuknipsen. Ich spähte ins Zimmer, als ich mich über die beleuchtete Stelle schlängelte. Fast wäre mir ein Laut des Erstaunens entfahren. Ich sah, beim Schein der Nachttischlampe, der durch ein Tuch gedämpft war, zwei Köpfe in Vaters Bett. Der eine, wie erwartet, gehörte ihm. Der zweite jedoch war Tante Delis Kopf. Was machte Tante Deli in Vaters Bett? Er hatte den Arm unter ihren Nacken geschoben, der Unterarm hing über die Bettkante, ein wenig nach oben, wie bei der schlafenden Anneli.
    Ich stellte mich ins Dunkel und blickte noch einmal ins Zimmer. In diesem Augenblick bewegte sich Tante Deli. Die Bettdecke rutschte hoch und enthüllte ihren Hintern.
    Einen marmorweißen Hintern.
    Auf einmal wußte ich, was mein Vater meinte, wenn er Tante Deli auf den Hintern klopfte und fragte: »Was macht das Marmorpalais?«
    Nur ich, Hansi Pommrehnke, hatte dabei an Potsdam gedacht.
    Ich schlich ins Bett zurück, in dieser Nacht gab es keine Brause. Lange lag ich wach, bildete mir ein, daß der Lichtschein den Korridor erhellte, bis hin zu unseren Zimmern am entgegengesetzten Flurende.
    Zu meinem Erstaunen stellte sich am anderen Morgen die Welt dar wie immer. Tante Deli werkte in der Küche, bereitete unsere Pausenbrote vor und das Frühstück. Sternchen Siegel raste auf einer blitzenden Maschine heran und nahm Aufträge entgegen. Ich sah Joachim an. Ich sah Anneli an. Gleichmütig stopften sie sich Haferflocken in die Münder. Ich sah Tante Deli an. Ihr straffer Rock spannte über dem Körperteil, der mir jetzt als Marmorpalais vertraut war.
    Mittags, als ich von der Schule zurückkam, stand mein Vater hinter dem Tresen wie immer. Auch ihm war nichts anzusehen. Irgendwann fragte mich Joachim: »Hast du gestern keine Brause geholt?«
    »Ich konnte nicht«, sagte ich. Und da wir allein bei den Pferdeboxen waren, fügte ich hinzu: »Tante Deli lag bei Vati im Bett.«
    Joachim schob die Brille hoch. »So, so«, murmelte er.
    »Was

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