Das Schützenhaus
den Verandastufen stand Sternchen und winkte. »Er schmeißt solange den Laden«, wiederholte mein Vater. Tante Deli, in einem Kostüm, das vor dem Krieg modern gewesen war, ließ sich ins Polster sinken. Beim Rock sah man, daß sie ihn an den Seitennähten ausgelassen hatte. Die Jacke ließ sie offen.
Wir brausten durch den Grunewald und durch Halensee. Als wir an einer Baustelle vorbeikamen, sagte mein Vater: »Das wird das letzte Stück der Avus, die modernste Autorennbahn Europas.« Tante Deli murrte: »Dazu ist Geld da.«
Wo hatten wir unsere erste Reifenpanne; In Marwitz? In Vehlefanz? Ich erinnere mich, daß Tante Deli gerade unsere Stullen ausgepackt hatte. Mein Vater biß in eine Boulette. »Pfui Deibel«, sagte er. »Die schmeckt ja wie neunzehnhundertachtzehn. Nüscht als Zaddern.«
Bevor Tante Deli auf diese Anschuldigung antworten konnte, gab es einen Knall. Es war eine Art gemütlicher Knall, die Luft entwich mit Verzögerung. Das Auto hüpfte auf dem Stuckerpflaster, schwankte von einer Seite auf die andere. Ede Kaiser kurbelte am Lenkrad und rief »Scheibenkleister«. Die Felge des beschädigten Rades klapperte über das Pflaster. Wir hielten. Mein Vater warf die angebissene Boulette aus dem Fenster und stieg aus. Ede Kaiser hockte sich neben den Wagen und besah sich den Schaden. »Ein Hufnagel«, konstatierte er.
Während die Männer einen neuen Reifen montierten, gingen wir durch das Dorf. Zeppelin rannte in ein Hoftor, Anneli ihm nach. »Zellepiiin …«, hörten wir sie rufen. Joachim sagte: »Vorwärts, wir trinken ’ne Limo.« Ein paar Häuser weiter lag ein Gasthof, der sich »Zur Linde« nannte. Wir gingen hinein. Anneli mit Zeppelin folgte. Im Halbdunkel sahen wir den Wirt hinter dem Tresen stehen. »Hunde kommen mir hier nich rin«, sagte er, »und an Jugendliche ist der Ausschank verboten.«
Wenn ich mir heute die Entfernung von Berlin nach Lindow auf der Landkarte ansehe, verstehe ich nicht, wieso ich hier die ganze Zeit von einer Reise spreche. Nicht mehr als siebzig Kilometer trennten uns von unserem Ziel. Dennoch waren wir einen vollen Tag unterwegs. Neben dem Asphaltband der Chaussee zogen sich Sommerwege, wenn uns ein Fuhrwerk entgegenkam oder, in seltenen Fällen, ein Auto, mußten wir auf den Sommerweg ausweichen. Ede Kaiser bremste ab, der Wagen neigte sich, glitt erst mit den Rädern der rechten, dann der linken Seite die hohe Kante vom Asphalt runter. Sofort gab Ede Gas, denn die Räder mahlten im Sand. Hatten wir das Fuhrwerk passiert, kletterte der Chevrolet mühsam auf den Asphalt zurück. Ede beschleunigte, Tante Deli rief: »Nicht so schnell, Herr Kaiser!«
Ede Kaiser fuhr siebzig oder achtzig, ein paar hundert Meter, bis wir wieder vom Asphaltband runter mußten.
Kornfelder erstreckten sich blaßgelb bis an den Horizont, wo das dunkle Grün von Alleebäumen sie gegen den hellblauen, wolkenlosen Himmel abgrenzten. Stundenlang fuhren wir unter solchen Alleebäumen. Linden, so alt wie die Bäume beim Schützenhaus, begrenzten links und rechts die Chaussee und spendeten Schatten. Damals gab es noch keine Staus, hier hätte man sie ausgehalten.
Anneli langweilte sich. Fragte, ob wir noch eine Panne haben würden, das sei nett gewesen, obwohl der Wirt, »der Kaffer«, uns keine Limonade geben wollte. »Außerdem wollte er nicht, daß Zellepi ins Lokal mitkommt.«
»Was müßt ihr da reinrennen«, rügte Tante Deli. »Wir haben Limonade mit.«
Wir unterhielten Anneli, indem wir sie prüften. Inwieweit erinnerte sie sich noch an unsere erste Wohnung? »Wo war das Telefon?« fragte Joachim. Anneli: »Im Korridor an der Wand.«
»Richtig.« Ich zählte die Punkte. »Die Dunkelkammer?« – »Eine Treppe tiefer.« Anneli erinnerte sich genau. Als sie fünfzig Punkte beisammenhatte, fiel uns nichts mehr ein. Ede Kaiser und unser Vater tauschten Kriegserinnerungen aus. Joachim nannte das »Weißte-noch-Geschichten«: »Weißtenoch, wie wir Kohldampf schoben, und wir kamen in das Dorf, und alle Fensterläden waren zu? Wie wir an eine Tür gewummert haben, da kam die Madame. Ede, du hast zwei Francs hochgehalten und gerufen: ›Madame, poulet!‹«
Ede Kaiser lachte und erzählte weiter, wie sie nach der Luke vom Hühnerstall gesucht hätten. Es gab aber keine Luke, und die Madame amüsierte sich. Da krähte er, Ede, wie ein Hahn, und aus der Scheune antworteten die Hühner. Abends gab’s Hühnersuppe, und die Madame rang die Hände.
Hundertmal gehört. Dennoch lauschten
Weitere Kostenlose Bücher