Das Schützenhaus
paar Spritzer ab, er hielt die Zigarette in die Höhe.
Eine Szene aus einem Reklamefilm für Freikörperkultur? Oder der Nachmittag eines Fauns, Onkel Rudolph als Faun? Heute möchte ich es gern so sehen. Die Wahrheit war, daß wir alle Badeanzüge trugen. Badeanzüge, nicht Badehosen. Meiner war blau mit einem auf genähten Delphin auf dem einen Hosenbein, ein verschossenes Blau, das Oberteil weiß und blau gestreift. Anneli trug einen verwaschenen roten Badeanzug, derihr ein bißchen groß war, sie hatte ihn von einer Freundin geerbt. Lauras Badeanzug war blau wie meiner, etwas dunkler in der Farbe vielleicht.
Und Onkel Rudolph? Er trug einen schwarzen Badeanzug mit Trägern und Beinlingen. »Ihr habt mir die Fische verscheucht«, rief er. Dann zog er unter dem Steg einen aufgeblasenen Schlauch für einen Autoreifen hervor, aus leuchtend rotem Gummi. Er ließ sich hineinfallen und paddelte auf den See, mit einer Hand, in der anderen hielt er die Zigarette, so lange, bis sie zu Ende geraucht war. Onkel Rudolphs Hintern hing im kühlen Wasser. Zeppelin schwamm drei- oder viermal um dieses improvisierte Schlauchboot herum, vielleicht überlegte er, ob er hineinbeißen solle. Dann ließ er von Onkel Rudolph ab. Das Schlauchboot trieb weiter auf den See hinaus.
Wir blieben viel zu lange im Wasser. Am Ende saßen wir mit blauen Lippen auf dem Steg, blickten weit über den See, wo Onkel Rudolph in seinem Schlauchboot kleiner und kleiner wurde. Die Packung mit seinen Zigaretten und ein Sturmfeuerzeug lagen auf den Bohlen. »Wir können ’ne Lulle zischen«, schlug Laura vor. Joachim mimte Gleichmut, klaubte eine Zigarette aus der Packung. Er zündete sie an, tat einen Zug und reichte sie an Laura weiter. Wir pafften reihum und fühlten uns gut. Weil es was Heimliches und zugleich Luxuriöses war, sahen wir darüber hinweg, daß uns die jämmerlichen Badekostüme an den Körpern klitschten und hintenherum klemmten. Wasser lief an den Beinlingen heraus, unter uns bildeten sich Pfützen, und in der Stille des Nachmittags hörte ich, wie Tropfen durch die Ritzen auf das Wasser fielen.
Das kann ich heute erzählen, als sei es vor wenigen Minuten geschehen. Damals, auf dem Lindower Steg, gehörten wir zusammen, Kinder, die eine Clique bildeten, notfalls gegen die Erwachsenen. Wir fühlten uns nicht verloren wie unter dem Menschengewühl im Strandbad Wannsee, das damals noch fast urwüchsig war, die Terrassen, wie wir sie heute kennen, wurden erst später gebaut. Ungeniert gaben sich die Berliner dort dem Badeleben hin. Im letzten Sommer hatten wir zwischen zweiFamilien gesessen, deren weibliche Mitglieder Unterröcke, sogar Korsetts und Büstenhalter trugen. Sie mampften Schlackwurstbrote, das fettige Stullenpapier trieb vor dem Wind über den Sand. Ein Kind in einem ähnlich uneleganten Badeanzug, wie wir ihn trugen, stieß einen blauen Ball vor sich her, auf dem in großen Buchstaben weiß NIVEA leuchtete. Der Ball flog einem Mann an den Kopf, der in seiner Sandburg lag, die Hosenbeine hochgezogen, man sah Socken und Sockenhalter. Der Mann sprang auf, fing sich den Jungen und schwalbte ihm eine. »Hören Sie mal«, rief die Mutter des Jungen, »ist das Ihr Kind?«
»Nee, aber mein Kopf«, brüllte der Mann.
Vorne am Wasser standen zwei oder drei Kerle in Hosenträgern. Sie wühlten ihre käsigen Füße in den Schlamm, hielten die Arme über der Brust gekreuzt und blickten über die Bucht, wo in der Ferne die Spreekähne zogen. Dazwischen ein paar mutige Schwimmer, in Kostümen, die dem Badeanzug von Onkel Rudolph glichen. Sie warfen sich in die Fluten, bald sah man weit draußen ihre Köpfe. Die Mädels hockten im seichten Wasser und sahen den Schwimmern nach.
Kinder wollen möglichst so sein wie andere Kinder. Ich gestehe, daß ich spät schwimmen lernte. Eine Weile tat ich so, als könnte ich es und wurde ausgelacht. Unser Vater erzählte, wie er als Husar in der Schwimmanstalt der Potsdamer Kaserne vom Zehnmeterbrett gesprungen sei. Wir glaubten es ihm, er war einer jener erwähnten mutigen Havelschwimmer. Jedoch: Was nützte das mir? Ich fürchtete mich, wenn mein Kopf unter die Wasseroberfläche geriet. Heimlich übte ich zu Hause, mit dem Bauch auf einem Hocker liegend, Schwimmbewegungen, die Joachim mir vormachte. Trotzdem hatte ich immer wieder Angst, sobald feststand, daß die Familie nach Wannsee fuhr, zumal ich auch gesehen hatte, wie der Schwimmlehrer seine Schüler mißhandelte, sie an einem langen Stecken
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