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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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der heute die meisten annehmen, sie sei nicht machbar, die Tonspur auf dem Film. Daran wird experimentiert, das dauert. Als die Dampfmaschine erfunden war, brauchte es seine Zeit, bis die erste Eisenbahn fuhr. Oder du mit deinem Lilienthal. Die Menschen wußten immer, was Fliegen ist. Sie sahen die Vögel, die Insekten. Dann kam einer, der schnallte sich Flügel um, und es ging los.« Er rückte an seiner Brille, sah mich an oder nicht, so genau wußte ich das nie.
    »Was wollte ich sagen?« fuhr er fort. »Ach, so. Die Tonspur. Ich sage euch voraus, daß man sich hier und heute noch keinen Begriff davon machen kann, mit welcher Qualität einmal Tonfilme vorgeführt werden können. Denkt an das Radio. Auch das Radio steckt in den Kinderschuhen.«
    Was er mit den Kinderschuhen hatte. Kinderschuhe, das Wort fuhr in meinem Kopf herum wie ein Marder im Käfig. »Röhrenradio«, hörte ich Joachim von ferne sagen. »Bis dahin zeigen wir Stummfilme. Ach, die großen Stummfilme! Pola Negri in …«
    Ich habe vergessen, in welchem Film. Joachim hatte geflüstert, bis ihn die Begeisterung hinriß und er lauter sprach. »Pst!« zischten wir. Im richtigen Augenblick. Unten an der Treppe hörten wir den elektrischen Schalter klicken. Tante Deli kam die Treppe herauf. Wir saßen in meinem Bett aneinander-gekauert, warteten, bis sie in ihrem Zimmer war. In ihrem Zimmer oder im Zimmer unseres Vaters …
    Wir mußten alle drei eingeschlafen sein. Ich erinnere mich, daß ich im Wegsinken überlegte, wie Anneli wohl die Beziehung zwischen ihrer Mutter und unserem Vater sehen mochte. Vielleicht war sie zu klein, um zu begreifen. Die Überlegung mündete in einen Traum, der Anneli zeigte, wie sie mit meinem Vater Karussell fuhr. Sie saßen auf Pferden, einem Braunen und einem Schimmel. Die Karussellpferde trugen Schabracken wie Husarenpferde auf den Fotos, die meinen Vater als Husar zeigten, mit roter Litewka und blauer Attila, jedes Bild handkoloriert. Doch trug mein Vater im Traum ein langes, weißes Hemd wie sein Nachthemd.
    Aus diesem Traum weckten mich Geräusche. Ich wußte sofort, daß mein Bruder und Anneli mit mir im Bett lagen, und tastete nach ihnen. Sie waren wach wie ich. Die Umrisse der Türöffnung waren erkennbar. Lautlos schlichen wir bis zur Schwelle. Auf dem Flur, vom Lichtschein hinterstrahlt, der aus Vaters Zimmer fiel, wandelte Tante Deli im Nachthemd. Sie schwenkte ein Leintuch. »Verdammte Wärmflasche«, brummelte sie. »Der Stöpsel schließt nicht mehr. Dies Haus ist voll von Tinneff. Nur eine Meschuggene wie ich fällt auf einen Mann rein, der im Bett liegt wie Oppusoff und alles verkommen läßt.« Sie wedelte mit dem Laken.
    Wir platzten fast vor Lachen, schlichen ins Bett zurück und steckten die Köpfe unter die Bettdecke. »Kneif mich«,quietschte Anneli, »kneif mich, damit es schmerzt. Ich lache sonst laut los.«
    Wir hörten, wie unser Vater sagte: »Ruhe im Beritt!« Hatte er uns gehört? Oder wollte er, daß Tante Deli ihren Monolog über den Zustand der Gegenstände im Haus und gewisse Charaktereigenschaften des Hausherrn beendete?
    Er vergaß, wie sonst üblich, Oppusoff in Oblomow zu korrigieren. Das Licht ging aus. Joachim und Anneli schlichen in ihre Zimmer zurück.
    Am nächsten Morgen betraten wir erwartungsvoll die Gaststube, hatte doch unser Vater angedeutet, daß er die Sache überschlafen wolle. Wir warteten auf eine Entscheidung. Doch er kam herunter, setzte sich an den Tisch und sagte kein Wort. Tante Deli knallte die Pfanne mit Rührei auf den Tisch. Sternchen Siegel schnurrte auf dem Rennrad heran. Der Eislieferant lud Stangeneis ab.
    Alles wie gewöhnlich, nur daß eine Atmosphäre von Erstarrung über allem lag. Niemand war unfreundlich, niemand meckerte. Niemand sagte aber auch ein nettes Wort. Stellte Fragen, meinetwegen nach der Schule: »Geht alles gut?« Mehr wollten sie nicht von uns wissen, die Erwachsenen.
    Ich bezweifelte, daß sich mein Vater mit den Kintopp-Plänen näher beschäftigen würde. Neben den Filmpalästen existierten eine Menge Flimmerkisten in Berlin. Eine, für Kinder, war bereits in unserem kleinen Saal installiert. Die Erwachsenen hielten das wahrscheinlich für ein Spielzeug. Joachim war in ihren Augen ein Kind. Ihm ein Kino einrichten? Manchmal, wenn sie meinten, wir hörten nicht zu, sprachen sie darüber, was wir Kinder werden sollten – oder könnten. Joachim betreffend war dann von »Abitur machen« die Rede. Vielleicht würde er studieren?
    Mein

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