Das Schützenhaus
sehr, glaube ich, weil ich zum wahrscheinlich ersten Mal bei so einer Sitzung geredet hatte, sondern weil ihm als hundertprozentigem Cineasten – das Wort kam später auf, aber er war wirklich einer – meineIdeen gegen den Strich gingen. Ich sah es hinter seiner Stirn arbeiten. Wußte, was da vorging: Der Kleine hat eine Macke, dachte mein Bruder.
Die anderen redeten alle durcheinander, mindestens zehn Minuten lang. Ich hörte nicht mehr hin, mir war wieder alles gleichgültig. Fanden sie keine Sonntagsfilme, müßte ich nicht in der überhitzten Kabine hocken und die Projektoren bedienen. Sternchen brauchte die schweren Rollen nicht in seinem Hanomag Kommißbrot heranzufahren. Anneli mußte keine Karten verkaufen.
Vielleicht könnte ich in die Havelberge fahren und den Hitlerjungs beim Segelfliegen zusehen. Ich könnte mich erkundigen, was man tun mußte, um der Mannschaft beizutreten. Sicher würden sie mich nicht gleich fliegen lassen. Aber die Chance bestand, daß ich eines Tages …
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Mein Vater sagte: »… sind wir alle der Meinung, daß wir Hansis Ideen aufgreifen.«
Die anderen nickten. Robinson Krause servierte eine Runde. Molle mit Korn. Auch für mich. Mein Vater sah’s mit hochgezogenen Augenbrauen, sagte aber nichts. Brummte nur: »Folglich. Eskadron – marsch!«
Von den Mitgliedern der Fußball-Juniormannschaft, die Wilfried anschleppte, wollte Anneli nichts mehr wissen, obwohl sie da hartnäckige Verehrer hatte. Sirenes Vetter ließ nicht locker, lud Anneli zum Fußballspiel ein und in die Eis-Anneliese. Sirene war nun ein junger Mann mit Pickeln am Hals. Über die Pickel wand er einen weißen Schal aus glattem Stoff, der Schal ging immer auf, und man sah die Pickel. Er kam mit Braut, einer langen Blonden, sagte wenig und trank Weiße mit Schuß. Seine Braut trank Weiße ohne Schuß, das fiel uns auf. An seine Laufbahn in früheren Zeiten, die ihm den Namen Sirene eingetragen hatte, wollte er nicht erinnert werden. Sirene drohte gegebenenfalls mit Hieben, von denen dem Herausforderer sämtliche Gesichtszüge entgleisen würden.
Sein kleiner Vetter jedoch umschwänzelte Anneli, sie ließ es sich gefallen. Alle staunten, als sie es schließlich vorzog, die Gaststube zu verlassen, wenn der Kleine reinkam.
Das heißt, alle Gäste staunten. Wir hatten längst gemerkt, daß Anneli nach Zeppelins Tod verändert war. Sie nahm nicht mehr an unseren gemeinsamen Mahlzeiten teil, trug ihren Teller die Treppe hoch ins Zimmer. Das Fahrrad stand an die Schuppenwand gelehnt, langsam entwich die Luft aus den Reifen. Oft kam sie verspätet aus der Schule, sie bummelte unterwegs. Ich sah sie einmal auf einer Bank in den Anlagen bei der Mädchenschule sitzen und Löcher in die Luft starren.
»Du mußt mit ihr reden«, mahnte mein Vater Tante Deli. »Schließlich bist du die Mutter.«
Tante Deli benutzte die Gelegenheit und brachte an, daß sie hier nichts mehr zu reden habe, seit diese junge Reiterin alles kaputtmache. Und mit ihrer Tochter, mit Anneli, könne sie schon gar nicht reden. Anneli sei kein Kind mehr. Ihrer Mutter vertraue sie sich am wenigsten an.
»Heiliges Kanonenrohr«, sagte mein Vater. Tante Deli warf die Küchentür hinter sich zu. Der Kalk rieselte, man hörte es in der Stille, die eingetreten war. Sogar das Summen der Fliegen, die am Fliegenfänger über dem Stammtisch klebten, setzte einen Augenblick aus.
Von diesem Tag an begann der Rückzug der Kavallerie im Schützenhaus. Die äußeren Anzeichen schienen gering. Nach wie vor unternahmen Gila-Monster und ihr Husar Ausritte in den nahen Forst, und die Pferde wurden gesichtet, vor dem Forsthaus angebunden. Nach wie vor nahm die Reiterin in der Stallgasse nach dem Ritt ihren fliegenden Blusenwechsel vor. Dennoch spürten wir, eine Veränderung war eingetreten.
Tante Deli legte keinen Lippenstift mehr auf. Ihr Gesicht, gewöhnlich von Küchenhitze gerötet, blieb jedoch bleich, sogar bei Stoßgeschäft, wenn die Küche dreißig oder vierzig Schweinebraten hintereinander lieferte, und noch ein Dutzend Eisbein dazu. Es schien, als sei Tante Deli von innen erkaltet. Eines Morgens, wir waren unter uns, sogar Anneli saß mit am Frühstückstisch,kündigte Tante Deli an, daß sie und Anneli verreisen würden. »Wir fahren nach Lindow«, sagte Tante Deli. »Zwar sind das nicht unsere Großeltern, wenn wir welche hätten, würden wir natürlich zu unseren Großeltern fahren. Aber immerhin sind es ja auch
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