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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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jemand: »Lydia!«, dann stürzten beide Lydias aus der Küche, verklemmten sich in der Tür und ließen den Schmorbraten fallen.
    Mein Vater schüttelte den Kopf und zog sich so bald wie möglich auf seinen Mount Gänsekiel zurück. Da lag er dann, dampfte Zigarre. Zornig? Verzweifelt? Einsichtig? Wir wußten es nicht. Stolz war ein Leibgarde-Husar und zeigte ebensowenig seine Gefühle wie Winnetou am Marterpfahl.
    Großvater telefonierte. Da er dem Telefon nicht traute, brüllte er in den Apparat. Mein Vater hielt den Hörer weit vom Ohr ab, wir bekamen mit, was Opa sagte: »Wat haste mit der Kleenen jemacht? Deine Deli is janz aufjelöst. Wie Syndetikon in de Waschschüssel.«
    Mein Vater preßte kurz den Hörer ans Ohr, wollte etwas sagen, aber gleich vergrößerte er den Abstand wieder, denn Opa brüllte weiter: »Die kam in ein’n Zustand an, wie kalt jewordene Mehlsuppe. Mensch, Junge, reiß dir am Riemen. So jeht det nich. Ick wollte sagen, jetzt jeht es ihr besser. Aber du solltest … wat? Frollein, ick spreche noch. Ja. Versteh’n Se mir nich? Jetzt hat die olle Amsel jetrennt. Nee, ick bin noch da. Walter, biste noch da, mein Junge? Ja? Ick wollte sagen, jetztjeht et besser, ooch der Kleenen. Mensch, die war traurig. Det mit ihre Töle, det die Töle dot is. Walter, biste noch da?«
    Wir lagen auf den Stühlen und grinsten.
    »Oma läßt jrüßen«, sagte Großvater. »Laß dir wat einfalln, Junge. Ende, Ende.«
    Mein Vater stand da, den Hörer in der Hand. Er schüttelte den Kopf wie Franz Diener, als Maxe Schmeling ihm den Uppercut verpaßt hatte. Lydia Blitzzahn trat hinzu, nahm ihm behutsam den Hörer aus der Hand und hängte ihn auf die Gabel. Wir nannten sie Lydia Blitzzahn, zur Unterscheidung von Lydia Trampel.
    Lydia Blitzzahn unterdrückte Lydia Trampel. Neuerdings sahen wir Lydias blaue Adern in den Kniekehlen wieder, wie einst beim Pflaumenpflücken. Sie kroch mit einem Lappen unter den Tischen herum, bewacht von Lydia Blitzzahn, und wischte auf. Dies war früher selten geschehen, der meiste Dreck hatte an Mathildes Strampelhöschen geklebt.
    Mathilde war fast sechs, sie konnte über den Tisch kucken. Und, wenn im Nebenzimmer oder im kleinen Saal gedeckt war, an den Tischtüchern ziehen. Auf den Dielen kroch jetzt Klein-Karl umher, der Sohn von Ede und seiner westpreußischen Frau, und ein pummeliges Mädchen, Tochter des Feuerwehrmanns Puvogel.
    Puvogels Frau kam immer noch nicht mit, sie mußte den Laden hüten. Puvogel brachte seine Tochter, er trug sie auf dem Arm, hin zum Schützenhaus durch die Dämmerung, zurück durch die Nacht.
    Zwei Tage lang nach Opas Anruf blieb mein Vater im Bett liegen. Er fühle sich krank, sagte er. Die Lydias brachten ihm heiße Brühe und Tee. Sternchen sagte, sie sollten ihm Hühnerbrühe geben, ausschließlich Hühnerbrühe. Die Juden heilten alles mit Hühnerbrühe. »Wird er auferstehen wie a junger Gott«, versprach Sternchen.
    Der junge Gott aber wollte nicht. Die letzte Zigarre, die er geraucht hatte, lag frühverlöscht im Aschenbecher auf dem Nachttisch. Fehlfarben, an einem Ende besabbert. Niemandräumte sie weg, weil Vaters Gewohnheit des Stummelkauens bekannt war und geheiligt wurde. Die Lydias flüsterten, man solle einen Arzt holen, aber mein Vater verbot es ihnen. Manchmal sprach er jetzt mit Joachim über das Kino, das war neu, es schien, als begriffe er nun, daß Joachim kein Kind mehr war.
    Am liebsten empfing er Papa Warnickc, der jeden Abend Lydia Blitzzahn abholte. Papa Warnicke setzte sich auf den Bettrand, und dann hechelten sie ihre Husarengeschichten durch, unverwüstlich, als sei die Welt 1917 stehengeblieben. Wir hörten einzelne Wörter, Patrouillenritt, Attacke, Eskadron. Neuerdings sollte man Schwadron sagen, mit dem völkischen Erwachen Hand in Hand entstand die Abneigung gegen welsches Worttum. Ich hörte, wie die beiden sich darüber unterhielten.
    War mein Vater wirklich krank? Daß er seine Zigarre nicht rauchte oder wenigstens kaute, deutete darauf hin. Doch wie konnte ein Kranker derart fröhlich sein wie mein Vater, wenn Papa Warnicke auf dem Bettrand saß?
    Joachim war tagsüber selten da, er fuhr in die Stadt, »nach Berlin«, wie wir immer noch sagten, sah sich Vorführungen der Filmverleihe an. Spielfreie Abende bei uns trieben ihn wieder in die Stadt, in die Kinos. Aus den so gesammelten Erfahrungen entwickelte er den Spielplan für uns. Er spekulierte damit, daß viele Vorortbewohner den weiten Weg in die Stadt

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