Das Schützenhaus
ich. »Keiner macht das Maul auf? Soll sie denken, Zeppelin sei abgehauen? Davongelaufen wie irgendein Köter? Sie weiß genau, daß Zeppelin das nicht tun würde.«
Mein Vater hielt den Kopf gesenkt und wischte auf der Theke mit einem Tuch. Tante Deli rumorte in der Küche, lauter als üblich. Joachim rückte an seiner Brille. »Komm«, sagte ich. Wir gingen nach draußen und fingen Anneli ein. »Zeppelin ist tot«, sagte ich. »Heute nacht ist er gestorben.«
Anneli sah uns an, einen Augenblick schien sie wie versteinert. Dann sah ich an ihren Augen, daß sie begriff. Sie fiel mir um den Hals und blieb an mir hängen. Ein Schluchzen versetzte ihren Körper in Zuckungen, ich erwartete Tränen, aber es kamen keine.
Sie ließ mich los. »Wo?« fragte sie.
»Sie haben ihn begraben«, sagte ich. »Sie wollten nicht, daß du ihn tot siehst. Joachim weiß, wo das Grab ist.«
Joachim führte uns ans Ende der Wiese, wo frische Erde im Grün die Stelle zeigte. »Ihr hättet warten können«, sagte Anneli. »Meint ihr, ich hätte es nicht ausgehalten? Wie soll ich mich nun von ihm verabschieden?«
Wir schauten vor uns hin auf die frische Erde.
Anneli drehte sich um und ging ins Haus zurück. Sie ging vornübergebeugt, die Arme hingen schlaff herunter wie die Arme der Kaffeetante. Sie schloß sich in ihr Zimmer ein und wurde an diesem Tag nicht mehr gesehen, außer von Lydia. Lydia stellte ihr Butterstullen und ein Glas Milch vor die Tür. »Anneli hat die Tür einen Spaltbreit geöffnet und das Tablett hereingezogen«, berichtete Lydia. »Sie hat mir zugelächelt, aber nur mit einer Hälfte des Gesichts. Sie lächelte halb, und das sah traurig aus.«
Am nächsten Tag pflanzten Anneli und Lydia Blumen auf Zeppelins Grab. Ich weiß nicht, was es für Blumen waren. Aber alle blühten blau. Keine Blume war darunter, die gelb oder rot oder rosa blühte. Ob die Mädchen sich was dabei gedacht hatten, weiß ich nicht.
Joachim vernarrte sich mehr und mehr in seine Kinoidee. Mit Hilfe Leberecht Lehmanns und Werners hatte er eine Auswahl getroffen, Filme, die für unser Stadtrandpublikum geeignet waren. »Ben Hur« lief, erinnere ich mich, und ein Dubarry-Film mit Pola Negri. Dann Filme mit dem neuen Star Greta Garbo. Schließlich besorgten sie sich Buster Keaton und Harold Lloyd. Alles lief bei uns als Stummfilm, mit Werners Kommentaren und Musikbegleitung.
An einen einzigen Mißerfolg erinnere ich mich, »Metropolis«. Davon wollten die Menschen hier draußen nichts wissen. »Ich verstehe sie«, sagte Joachim, »aber ich möchte sie nicht verstehen. Wenn sie einen künstlerischen Film ablehnen, vielleicht künstlerische Filme überhaupt, wird das Kino verflachen. Weißt du, wie viele Menschen jede Woche ins Kino gehen?«
Ich wußte es nicht.
»Zweihundertfünfzig Millionen«, sagte Joachim. »Unter all diesen Millionen muß es doch genügend Menschen geben, die künstlerische Filme wollen.«
Meine Interessen lagen immer mehr bei der Fliegerei, und manchmal verwünschte ich Joachim und unsere Filmkiste. Nahm uns der Gaststättenbetrieb des Schützenhauses nicht genügendin Anspruch? Mußten sich alle obendrein noch um Joachims Flimmerkiste kümmern? Schoko und Limonade und Bier verkaufen, Kassenfräulein spielen – dies war meistens Annelis Aufgabe, sie haßte es, wenn sie in dem Kassenkabäuschen sitzen mußte. Abwechselnd führte einer von uns die Filme vor. Man mußte immer dabeistehen, alle Augenblicke riß der Film, oder der Fördermechanismus hakte, oder die Optik verstellte sich, oder es regnete auf der Leinwand dunkle Striche, was vielleicht mit der verstellten Optik zusammenhing, ich bekam es nie heraus. Wenn ich vorführte, gab es oft Ärger, das Publikum johlte und pfiff, und manchmal warfen sie Bierflaschen nach der Leinwand.
Joachim langweilte mich weiter: »Das einzige wirkliche Filmgenie«, behauptete er, »war Méliès. Ich bin froh, daß wir damals die Spule gezeigt haben. Inzwischen ist kein einziger Meter von ihm im Verleih zu bekommen.«
»So«, sagte ich.
Joachim blieb unbeirrt: »Ich wundere mich, daß nicht ein Kino irgendwo auf der Welt den ganzen Tag ›Die Reise zum Mond‹ spielt und die anderen Filme von Méliès. Von diesem großen Zauberer.«
»Vielleicht tut es ein Kino«, meinte ich. »In Chikago oder in Marseille oder auf den westlichen Hebriden oder was weiß ich.«
Joachim schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.« Er faßte mich am Jackenaufschlag, gegen seine Gewohnheit,
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