Das Schützenhaus
scheuten und sich, etwas später, gerne Filme in den Stadtrand-Klitschen ansahen, von denen sie gelesen oder im Radio gehört hatten. In unserer Stadtregion standen nur das Heli und unsere Schützenhaus-Lichtspiele zur Verfügung. So nahmen sie den mangelnden Komfort in Kauf. Schließlich kamen sie wirklich von den Dörfern, wie wir es uns gewünscht hatten. Zweimal die Woche fuhr Sternchen in seinem Hanomag los und plakatierte unser Programm. Die Matineen waren manchmal ausverkauft, die Leute interessierten sich für Kulturfilme. Immer wieder erschreckte mich Lydia Blitzzahns Lächeln. Wie alle jungen Menschen konnte ich mir nicht vorstellen, daß man sich einen Partner oder eine Partnerin mit körperlichen Gebrechen aussuchte. Wie küßte man ein Mädchen mit Brille? Wie kam man je darüberhinweg, daß ein Mädchen beim Lachen sein Zahnfleisch zeigte? Wie, wenn der metallische Geschmack eines Mundes wie der von Lydia eine unmenschliche, technische, maschinenhafte Nähe suggerierte? Unvorstellbar.
Unvorstellbar, wie Joachim als Brillenträger bei Mädchen zum Ziel kam. Zum Ziel, das hieß zum Kuß. Weiteres mochte oder konnte ich mir nicht vorstellen. Anneli schrieb Joachim und mir einen Brief aus Lindow. Wir bekamen selten Briefe, lasen Annelis Berichte vom Gudelacksee mit zusammengesteckten Köpfen, während mein Vater um unseren Tisch schlich. Anneli schrieb:
Liebe Jungs, Joachim und Hansi, hier ist es glühend heiß wie immer im Sommer. Zusammen mit eurem Onkel fangen wir Krebse, das ist nicht einfach. Man muß die Steine umdrehen, unter denen sie sitzen, und sie an der richtigen Stelle anfassen, sonst zwicken sie mit ihren Scheren. Einmal hat mein Finger geblutet, da hat eure Oma mir einen Verband gemacht mit einer weißen Mullbinde. Abends war der Verband dreckig, denn wir sind mit dem Boot hinausgerudert, und ich habe das Wasser mit einer Konservenbüchse ausgeschöpft, da war unten im Boot viel Schlamm. Ich erzähle euch das, weil wir ein Erlebnis hatten, das schrecklich und schön zugleich war. Wir kamen in die Nähe der Insel mit der Ziegelei. Überall stehen Schilder: Anlegen verboten! Wir fuhren aber doch näher ans Schilf, denn wir hörten seltsame Laute. So, als wenn ein Säugling ein bißchen schreit, aber nur ein bißchen. Wir konnten uns das gar nicht erklären. Vielleicht ist es Moses im Schilfkörbchen, sagte eure Oma, aber das konnte ja nicht sein. Wir also rein ins Schilf. Was finden wir! In einer Kiste einen riesigen Stein, und neben dem Stein einen ganz kleinen Hund. Stellt euch vor, der Hund sah aus wie Zeppelin, nur eben winzig, mit dicken Pfoten. Euer Opa sagte, so eine Schweinerei, da haben sie einen jungen Hund ertränken wollen, aber die Kiste ist nicht untergegangen, sie hat sich im Schilf verfangen. Wer weiß, wie lange der Hund schon da drin ist Er wollte aus der Kiste, traute sich aber nicht, wegen dem Wasser ringsumher, und jaulte. Wir holten ihn ins Boot, und er wedelte mit dem Schwanz, war aber sehr erschöpft. Schnell sind wir zurück, und Oma hat Milch lauwarm gemacht, sie hatte auch eine Flasche mit einem Schnuller, damit hat sie, sagt sie, Klöterlämmchen ernährt, als Klöterlämmchen klein war. Das alte Schaf, die Mutter, hatte nämlich Klöterlämmchen verstoßen, das tun Schafe manchmal. Oma hat mir das erzählt. Opa sagte, nicht nur Schafe tun das, und überhaupt sei es eine Schande, wie Menschen . .. Da legte Oma den Finger an die Lippen, das heißt, Opa sollte den Mund halten, was er auch tat. Ich weiß nicht, was er sagen wollte. Oder? Jedenfalls sagen euer Opa und euere Oma, ich soll den Hund mit nach Hause nehmen, hoffentlich ist er dann kräftig genug, dann haben wir wieder einen Zeppelin. Ich hoffe, er kommt durch, manchmal ist er sehr schwach und fällt um. Aber dann ist es wirklich mein Hund und liegt nicht bei euerm Papa unterm Bett, das schwöre ich. Opa hat mir erklärt, daß er mein Großonkel ist und eure Oma meine Großtante. Es ist kompliziert oder wie das heißt. Ich soll sie Oma und Opa nennen wie ihr, und das tue ich. Oder hätte ich euch fragen müssen?
An Jungs ist hier nichts los. Der öffentliche Badestrand ist weit weg, da gehe ich selten hin, weil sie einen anpöbeln. Hier ist kein Mensch, ich schwimme nackend bis fast zur Insel und zurück. Der kleine Hund steht dann auf dem Steg und winselt. Wasser mag er nicht, kein Wunder bei seinen Erlebnissen. Aber er ist ja kein Karpfen oder Hecht. So macht es nichts. Ich weiß nicht, wann wir
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