Das Schützenhaus
Bäume, ein helleres Grün als der Waggon, der auf zwei Säulen von kreuzweise übereinandergelegten Eisenbahnschwellen ruhte. Den Raum darunter benutzte Dr. Eckener, der Hund, als Hütte. Hier saß oder lag er bei warmem Wetter und beobachtete, wer kam und ging.
Die Mädchen lehnten ihre Räder an die Sockel aus Eisenbahnschwellen, sie standen beieinander, liefen wieder auseinander. Vom Schützenhaus her, wenn die weißen Blusen sich bewegten, sah es aus, als flatterten nun Möwen statt der Krähen um den Eisenbahnwagen. Isabella, ihre Führerin, eilte die Stufen hinauf, verbrachte eine viertel, eine halbe Stunde bei Joachim.
Was tat sie dort? An den Sonntagen, wenn ich frei hatte und dem Aufmarsch der Mädchen zusah, überließ ich mich den lächerlichsten Phantasien. Lächerlich deshalb, weil es mich nichts anging, was mein Bruder und Isabella trieben, ich hätte nicht gewagt, ihn danach zu fragen. Doch ich stellte mir vor, auf die allerprimitivste Weise, wie Isabella ihre Uniform auszog, ihre Bluse, den blauen Rock, dann in diesen lächerlichen weißen Baumwollschlüpfern dastand, die damals alle Mädchen trugen. Ich stellte mir vor, wie Isabellas Zöpfe herabhingen, auf ihre Brüste, deren Form ich mir ausmalte, nach dem äußeren Eindruck von ihren Besuchen in der Gaststube her. Ich stellte sie mir immer mit diesen Zöpfen vor und in diesen lächerlichen Schlüpfern, obwohl sie doch genauso ihr Haar lösen, den Schlüpfer ausziehen konnte.
Es war sogar möglich, daß nichts dergleichen geschah. Daß sie am Tisch saßen, wo Joachim einen Filmstreifen durch den Betrachter laufen ließ. Daß sie einander gegenüber in den Sesseln saßen und sich unterhielten.
Vielleicht über Weltanschauliches? Würde sie Joachim aufweichen? Ihm vorwerfen, er sei Kommunist, weil er diese Filme zeigte, die im proletarischen Milieu spielten? Verlangte sie vonihm, daß er sich zum Nationalsozialismus bekennen müsse? Bevor sie ihn erhörte?
Alles schien mir möglich, das eine hatte einen erotischen Aspekt für mich genauso wie das andere. Man hätte meinen können, ich sei in Isabella verliebt, auf meinen Bruder eifersüchtig, und heute weiß ich oder ahne zumindest, daß ich diesen Eindruck erweckte. Nicht bei meinem Vater, der, aus der Sicherheit seiner Bettenburg, meinem Bruder sein Erwachsenendasein im grünen Waggon zugestand, innerlich immer noch staunend, nehme ich an, denn er gehörte gewiß zu jenen Vätern, für die ihre Kinder immer Kinder blieben. Eine Eigenschaft, die gewöhnlich Müttern zugeschrieben wird, doch glaube ich, daß Väter nicht frei davon sind. Besonders nicht ein Vater wie der unsere.
Wenn Isabella mit Joachim ins Schützenhaus herüberkam, unterhielt sie sich zwanglos mit Tante Deli, mit Werner Spiehr, mit Sternchen. Allerdings zeigte Sternchen die Tendenz zu entweichen, wenn »die Nazihippe«, wie er sie nannte, bei uns einfiel, und das Auftreten der gesamten Mädelschar schien ihm ganz und gar unerträglich. Er überließ es dann Robinson Krause, »die jungen Dinger« mit Faßbrause zu tränken. Tante Deli erwiderte nie Isabellas Gruß, obwohl Isabella »Guten Tag« sagte, als einzige übrigens, ihre Mädels sagten »Haitta!«, eine Zusammenziehung des neuen Nazigrußes.
Mich überfiel in Gegenwart Isabellas eine Art Lähmung. Ich errötete, selbst wenn sie nicht mit mir sprach, konnte Arme und Beine nicht bewegen, Halsstarre setzte ein. Es dauerte geraume Zeit, bis ich die Kontrolle über meine Gliedmaßen zurückerlangte. Sofort entfernte ich mich vom Tisch, kam mir vor wie Sternchen Siegel.
Niemand schien meine Verlegenheit zu bemerken. Bis eines Tages Anneli mich im Stall stellte, wo ich ihr beim Absatteln half. »Sie ist ein Skorpion«, sagte Anneli, scheinbar beiläufig. »Ihr Stachel trifft dich, und du bist gelähmt.«
»Wen meinst du?« fragte ich, obwohl ich genau wußte, daß Anneli auf mein Verhalten in Isabellas Gegenwart anspielte.
Anneli setzte sich auf die Futterkiste und klopfte auf den Deckel. »Setz dich her«, sagte sie. »Neben mich. Ganz dicht. Komm. Hast du Schiß vor mir?«
Ich schüttelte den Kopf und setzte mich neben sie.
»Aus dir werde ich nicht schlau«, sagte Anneli. »Dir ist anzusehen, daß du die Nazijule nicht liebst. Und trotzdem erstarrst du. Die Mieze ist nicht deine Angelegenheit, dein Bruder pimpert sie, wenn überhaupt. Vielleicht reden sie auch über Filme, das würde ich Joachim zutrauen. Joachim ist kein Mensch, in gewissem Sinne. Was Isabella an
Weitere Kostenlose Bücher