Das Schützenhaus
reinfallen. Als Filmmensch bin ich das Hinsehen gewöhnt.«
Ich versuchte, mich zu erinnern. Wahrscheinlich hatte er recht. Die wenigsten mochten blond sein.
»Wo sind sie?«
»Die kommen nicht wieder. Ich habe Isabella gesagt, meinetwegenkann sie wiederkommen, sie allein, wenn sie verspricht, daß sie Zwiebeln nicht zertrampelt und Filme nicht vernichtet. Berlin ist von Wiesen umgeben, überall sind exerzierende Mädelscharen willkommen. Bei uns nicht.«
»Bei uns nicht?«
»Es war scheußlich, als die SA hier marschierte. Hannemanns braune Bande. Erinnerst du dich?«
Wie sollte ich nicht.
»Hannemann«, fuhr Joachim fort, »wurde in die Schranken gewiesen, mitsamt seiner SA. Jetzt haben wir das BDM in die Schranken gewiesen.«
»Statt dessen haben wir den Kegelklub ›Alle Neune‹. Mit Wilfried an der Spitze.«
»Laubenpieper. Harmlos. Und uns zugetan.«
»Bist du sicher? Hast du vergessen, wie Wilfried und seine Kumpels auf der Brücke standen, und wir mußten vorbei? Mitten durch die hindurch?«
»Mensch, Hansi. Das ist Äonen her. Ein Jahrzehnt. Daran denkst du noch? Die Jungs haben uns bei der Prügelei rausgehauen. Das sind Freunde jetzt. Prima Kinokunden. Beim Kegeln lassen sie sich ein Faß aufstellen. Die hauen auf die Pauke. Sehen nicht auf den Pfennig. Dabei sind die meisten von ihnen arbeitslos.«
»Was wird mit Isabella?«
»Was soll werden? Sie ist frisch und saftig. Wie ’ne dicke Williams-Christ-Birne. Alo ahe. Was meinste?«
»Ich meine, wenn ihre Mädels nicht mehr kommen dürfen …«
»Isabella bleibt mir. Solange ich will.« Joachim sprach mit Überzeugung.
Hart war mein Bruder geworden, unnahbar, bis auf die seltenen Stunden unserer Gespräche am Abend. Unerbittlich hatte er durchgesetzt, daß der Waggon im Park aufgestellt wurde, in dem er nun hauste, sturmfrei, cineastischen und womöglich anderen Orgien hingegeben. Unerbittlich verfolgte er seinen Weg als Cineast. Wie viele Kinos es in Berlin gebe, hatte mein Vaterwissen wollen. Und gleich geraten: »Fünfhundert?« – »Über tausend«, hatte Joachim geantwortet.
Über tausend Kinos! Ob er denn eine Chance für sich sähe, angesichts der Konkurrenz, hatte mein Vater wissen wollen, angesichts der Tatsache, daß sie in den großen Kinos Tonfilme spielten, während in seiner, in Joachims, Flohkiste nach wie vor die ollen Stummfilmklamotten abgeleiert wurden, mit dieser Kinoorgel-Untermalung. Lächerlich.
Joachim belehrte unseren Vater, daß dies auch sein Kino sei, offene Handelsgesellschaft. Bewies ihm anhand von Zahlen, daß die Flohbude Schützenhaus enorme Gewinne machte. Ausverkaufte Vorstellungen.
»Es wird nicht so bleiben«, unkte unser Vater. »Ton-Wochenschau. Kulturfilme mit Ton. Wir können das nicht bringen. Ich habe in der Stadt einen Kulturfilm gesehen, ›Tierfänger in Afrikas mit Löwengebrüll. Alles dran. Wie meinste, will Werner das darstellen? Echtes Löwengebrüll? Und wenn die Neger schnattern. Will Werner selbst schnattern? Oder das auf der Orgel bringen?«
Eine außerordentlich lange, in ihrer Art humorige Rede unseres Vaters. Sie rang Joachim nicht das kleinste Lächeln ab. »Bisher kommen sie. Lachen über Dick und Doof und Harold Lloyd. Also funktioniert unser Rezept, oder? Sie haben die Kohle nicht, um in die Stadt zu fahren und sich in die Fauteuils vom Ufa-Palast zu lümmeln.« Er blickte meinen Vater von unten an, durch seine Brille – Joachim saß am Tisch in der Gaststube, mein Vater stand. »Jedoch«, sagte Joachim, »du bist gar nicht so ganz auf dem Holzweg. Eines Tages wollen sie Ton haben. Hier bei uns. Wie in der Stadt!«
»Was machen wir dann?« fragte Vater. »In Kinofragen hast du die Weisheit mit Löffeln gefressen.«
Joachim lächelte. »Ich habe eine Idee …«
»Die schönen Zwiebeln«, murmelte Tante Deli, sah meinen Vater an. Nicht jedoch mit einem Blick, der zum Verkünden solcher Schreckensnachricht gepaßt hätte, denn eine Schreckensnachrichtblieb das. Mein Vater liebte Bratkartoffeln mit Sülze und frischem Schnittlauch. Der war nun unter den Füßen der braunen Bestie Isabella gefallen und geknickt. Tante Delis Blick, was immer sie neuerdings vermeldete, sagte nur eins: »Ich mag dich.« Vielleicht sogar: »Ich liebe dich.« Aber so weit ging man als Berlinerin nicht. Nicht in der Öffentlichkeit.
Fest stand: Mit der Wiedereroberung von Vaters Bettenbastion kam Tante Deli voran, wiedererwachte Gefühle wurden erwidert, augenscheinlich, denn die Kopfkissen, so
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