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Das Schützenhaus

Das Schützenhaus

Titel: Das Schützenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Lentz
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einem Waggon vierter Klasse zu befinden. Ein Bett in einem Abteil, im anderen ein Arbeitstisch und etliche Klubsessel, die Sternchen Siegel nacheinander mit seinem Hanomag angekarrthatte, bildeten die ganze Einrichtung. Jenes Holztreppchen, das damals den Feuerschutzvorschriften zum Opfer gefallen war, führte hinaus. In diesem Jahr waren die Krähen besonders zahlreich eingefallen. Sie kreisten um den grünen Waggon bis weit in das Frühjahr hinein, der erste Schnee fiel spät.
    Ich spekulierte, was es mit Joachims Umzug auf sich habe. Eine Folge jenes Gefühls, das wir Erwachsenwerden nannten? Niemand hätte erklären können, worum es sich dabei im einzelnen handelte, wir gaben uns mit dem Wort, dem bloßen, nackten Wort, zufrieden. Vereinfacht: Brauchte er eine sturmfreie Bude? Möglicherweise war dies das Geheimnis. Wir sprachen nicht darüber. Nicht im Familienkreis, und ich schon gar nicht mit Joachim. Allenfalls Anneli gegenüber machte ich Andeutungen: »Wieso lebt er in seiner grünen Schachtel?«
    »Plemplem«, sagte Anneli. »Du weißt, daß er ’ne Macke hat.«
    Thema durch. Tango, bitte. Was hielt mich ab, mit unserem Vater über Joachim, über mich, über uns alle zu reden? Heute weiß ich: Er strahlte die Unnahbarkeit jener Vätergeneration aus. Mit Werner, mit Sternchen, die zwischen den Generationen standen, scherzten wir, eine kumpelhafte Sprache benutzend. Doch färbte die Scheu vor »den Erwachsenen« unsere Verhaltensweise dermaßen, daß wir auch mit ihnen nie gewagt hätten, »Tacheles« zu reden – ein Wort von Sternchen.
    Und Tante Deli?
    Für Anneli, deren Mutter sie war, mochte sie zuständig sein. Ich fragte Anneli nicht, aber ich glaube, zwischen ihr und ihrer Mutter gab es ebensowenig Aussprachen. Tante Deli erledigte Probleme per Monolog. Sie erledigte sie wirklich, wie mit einem Vorschlaghammer. Ihr Leben bildete eine Funktion zum Leben unseres Vaters, des Millionenbauern-Erben und Gastwirts. Des Husaren und Regimentskameraden. Des Kavalleristen, der sich ungestraft Extravaganzen herausnahm wie seine »Obulofferei«, seine Ausritte mit Gila-Monster. Tante Deli gehörte jenem Lager der Erwachsenen an, das hoch oben auf dem Feldherrnhügel unser Leben lenkte oder, auf Grund dieser optischen Perspektive, über uns hinwegsah.
    Kein Zweifel, wir waren nun selbst erwachsen. Als sichtbares Symbol hatte Joachim, heimlicher Leiter der Kinogesellschaft, den Waggon in den Park rollen lassen. Doch blieb es bei diesem Symbol, der Abstand zur Generation vor uns veränderte sich nicht. Wir gediehen schlecht und recht in ihrem Schatten.
    Erst spät wurde mir klar, daß sie, unsere Väter und Mütter – oder Tanten –, sich gleichermaßen krümmten. Nicht so sehr unter der Autorität ihrer Eltern. Die waren, wie meine Großeltern, eher großzügig, manchmal zur Weisheit neigend. Soweit sie aus dem Osten stammten, waren sie großzügig. Ihr freies Leben dort, die Umstände der Aussiedlung, die Tatsache, daß sie mit fremden Völkergruppen in enger Nachbarschaft gelebt hatten, zwangen ihnen freiere Anschauungen auf. Unsere Elterngeneration hingegen? Staatsmacht, Autorität. Daran hielten sie sich, kaisertreu, die perfekten Untertanen. Sie leisteten Eide, zu denen sie sich bekannten bis zum Untergang.
    Die Krähen kreisten um Joachims Waggon, den ganzen Winter lang. Im März taute der Schnee, und die Krähen blieben weg. Um den Waggon kreisten jetzt Mädchen auf Fahrrädern. Die Sonne wärmte, dann zogen sie ihre braunen Kletterwesten aus, und ihre weißen Blusen leuchteten. Nach dem Schwarz der Krähen nun dieses Weiß.
    Es handelte sich um eine Gruppe von BDM-Mädchen. Isabella, ihre Führerin, glich jenem Mädchentyp, den Joachim in Eis-Anneliese-Zeiten bevorzugte. Inzwischen schienen mir fast alle Mädchen blond, nur ihre Zöpfe trugen sie gewöhnlich offen wie Isabella, selten um die Köpfe geringelt.
    Ich spähte durchs Fenster des Schützenhauses in den Park, wo die weißen Blusen kreisten. Nach ein paar Fragen kamen die Mädchen in die Gaststube, bestellten Faßbrause. Isabella und Joachim hielten sich bei den Händen. Sie sah ihm zu, während er seinen Schmorbraten verschlang. Isabella sah ihm zu, als nehme er eine außergewöhnliche Handlung vor. Die Mädchen schwatzten und kicherten und erröteten abwechselnd. Einigekannten wir, Kinopublikum. Es war noch nicht lange her, daß sie sich für zwanzig Pfennig »Pat und Patachon« angesehen hatten.
    Der Frühling sprenkelte Grün über die

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