Das Schützenhaus
bigott wie sonst alles, was trotz anderweitiger Lektüre in unsere Hirne drang.
In der Tür rief ich trotzdem laut: »Werner! Werner… «
Die Orgel erstarb. Ein letzter, lungenkranker Ton. Werner stand gleich darauf in der Tür, als habe er die Orgel fernbedient. Mit seiner roten Nase und den immer tiefer in Fettpölsterchen gebetteten Augen glich er dem gerade berühmt werdendenamerikanischen Filmkomiker W. C. (»Dabbeljuh Zieh«) Fields. »Zu Joachim«, rief ich.
Dr. Eckener fuhr unter dem Waggon hervor und kläffte. Sofort stand Isabella auf der Treppe. Ihr Haar war aufgelöst. Keine Zöpfe?
Joachim empfing uns im Salon, zwischen den Klubsesseln, im ehemaligen Vierter-Klasse-Abteil. Geräumig, doch unverkennbar Eisenbahnwaggon. Durch die schmalen Fenster auf beiden Seiten fiel eine Unmenge Licht. Die Scheiben zum Wald hin waren halb heruntergelassen, mit Lederriemen eingehakt. Vorhänge flatterten, die mit Buchstaben bedruckt waren, DRB, Deutsche Reichsbahn. Bildete ich es mir ein, oder roch der Waggon immer noch nach Eisenbahn? Nach Lokomotivenruß, Öl, Staub und Klosett?
Auf dem Tisch lagen Kataloge von Filmverleihern, zuoberst einer der Tobis-Klangfilm. Möglich, daß Joachim darin geblättert hatte, bevor wir eintraten. Vielleicht hatte Isabella neben meinem Bruder gestanden, das aufgelöste Haar umspielte sein Gesicht? Oder kamen sie aus dem Schlafabteil, das ein Vorhang abtrennte?
Ich verbot mir solche Gedanken. Alle schnatterten drauflos, bis auf Kitty, die fast Stumme in jeder mir bekannten Lebenslage. Auch Isabella schwieg, sie flocht ihr Haar wieder zu Zöpfen.
Kitty blies Manoli-Dampf, nach vorangegangener galanter Handreichung Werners, der ihr Feuer gegeben hatte. Er besaß ein Feuerzeug, das der Freiheitsstatue im Hafen von New York nachgebildet war. Oben aus der Fackel schlug die Flamme. Neben Kitty wirkte Isabella unfertig wie der Rohling eines Werkstückes, nicht zu Ende bearbeitet.
Leberecht Lehmann hockte auf der Armlehne eines Klubsessels, Kitty hatte sich darin niedergelassen. Sie hatte sich hineingefaltet, flamingogleich, die Flamingos knicken ein Bein um, im Stehen zwar, dennoch sah dies ähnlich aus. Auch an Annelis Schlafhaltung erinnerte es mich, wenn ein Bein, unter der Decke hervor, abgeknickt in den Raum ragte.
Lehmann begann nun seinen Vortrag. Dank ihm, meinte er, könne das Tonfilm-Zeitalter beginnen, hier im Vorort. Er wies auf den Tobis-Klangfilm-Prospekt, den er ebenfalls sofort entdeckt hatte. Unser Kino, meinte Lehmann, sei wahrscheinlich das erste Stadtrandkino, das Tonfilme …
»Wie das?« f ragte Joachim in seiner kurz angebundenen Art. Er wirkte manchmal, als wolle er möglichst wenig mit uns zu tun haben. »Die Apparaturen sind unverschämt teuer, dazu kontrollieren Produzenten und Verleiher den Vertrieb. Du willst uns doch wohl nicht vorschlagen, daß wir diese Riesen-schallplatten verwenden wie bei dem Film mit Al Jolson?«
Joachim spielte auf jenes andere, damals benutzte Tonfilmsystem an, bei dem synchron Schallplatten von mindestens einem Meter Durchmesser liefen. Sie hatten damals, zur Vorführung des Jazz-Singer-Films in einem der großen Lichtspieltheater der Innenstadt, jene Apparaturen montiert, die aus Amerika kamen. Die Vorführkabine wurde von der Wach- und Schließgesellschaft und von Polizisten bewacht. Joachim und Sternchen hatten uns das berichtet, sie hatten mehrere Vorstellungen besucht und sich umgesehen.
Lehmann winkte beruhigend mit beiden Händen. »Keine Sorge«, rief er, »ich spreche von Lichtspur, selbstverständlich.«
L.-L. berichtete, er habe eine feinmechanische Werkstatt entdeckt, in der jene doppelten Optiken hergestellt wurden zu Versuchszwecken für große Firmen. Die Firmen hätten die Apparate übernommen, Prototypen, die dann in Serie gingen. Doch sei in den Werkstätten allerlei Material vorhanden, von den Versuchen her. Der Inhaber jener Werkstatt habe ihm, Lehmann, versichert, daß er durchaus einen Projektor bauen könne. »Hoch und heilig hat er es versichert«, betonte Lehmann. »Der Mann sitzt auf dem Material. Ich darf ihn inzwischen einen Freund nennen. Er wird uns helfen. Wir sollten uns das Zeug ansehen. Hast du Lust, Joachim?«
Lust! Dies war seine Welt. Joachim rückte an der Brille. Fragte, husarenmäßig kurz, das erinnerte an meinen Vater: »Wo?«
Ede Kaisers Mietwagen schaukelte uns in die Innenstadt, indie Gegend der Koehstraße. Ede hatte neben dem Fahrersitz einen Kinderstuhl festgebunden, in dem
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