Das Schützenhaus
saß sein Söhnchen Karl. Das Kind erzeugte mit seinen Lippen Motorengeräusche, der Sabber rann ihm übers Kinn. Manchmal wischte der Vater mit dem Ärmel über Karlchens untere Gesichtspartie.
Wir bogen in einen Industriehof. Gekachelte Wände an den Gebäuden, ein Schild »Buchbinderei Lüderitz und Bauer«, wieder eine Durchfahrt. Lieferwagen mit Firmenaufschriften, Lastenaufzüge, die außen an der Fassade hinauf- und hinabkletterten. Dann ein anderes Schild, kleiner, zwischen anderen Firmenschildern versteckt: »Feinmechanische und optische Werkstätten R. Schulte-Bumke«. Ede Kaiser sagte, er würde warten, und hob seinen Sohn aus dem Kinderstuhl. Es war ein hoher Kinderstuhl, wie man ihn den Kindern zum Essen an den Tisch schiebt, Karlchen konnte aus dem Fenster sehen, durch die Windschutzscheibe, über den Kühler hinweg. Wir stiegen Treppen hinauf, durch eine Eisentür betraten wir die Werkstatt. An kleinen Drehbänken bearbeiteten Männer kupferne Werkstücke oder Messingteile. Frauen polierten Linsen, auf denen das Licht blitzte. In einer Ecke, an einem runden Tisch, bauten sie Mikroskope zusammen.
Alle trugen weiße Kittel. Auch Herr Schulte-Bumke, ein noch junger Mensch mit langen, dunklen Haarkoteletten, trug einen weißen Kittel. Er habe, erklärte er, für Massolle und seine Kollegen gearbeitet, das sagte mir nichts, aber Joachims Augen leuchteten auf.
Später erklärte mir Joachim, daß Massolle und zwei andere Berliner die eigentlichen Erfinder des Tonfilms seien. In der Friedrichstraße hätten sie das erste Tonfilmstudio der Welt eingerichtet, mit Kartoffelsäcken als Schalldämpfung.
In Schulte-Bumkes Werkstatt merkte ich, wie ich mich wiederum von Joachim hatte einwickeln lassen. Was hatte ich hier zu suchen? Weshalb war ich mitgefahren? An meinem einzigen freien Tag seit Wochen? Setzte nicht Wuttke auf mich? Hatte er mir nicht versprochen, mich mit in die Rhön zu nehmen, zum Segelflug-Wettbewerb ?
Ich spürte den Sog, der von Joachim ausging. Woher nahm er diese Kraft?
Während Herr Schulte-Bumke uns langatmige Erklärungen gab, wußte ich, daß Joachim wiederum gesiegt hatte. Er würde das erste Vorort-Tonfilmkino haben. Die Menschen würden ins Schützenhaus strömen. Werner konnte seine Orgel dichtmachen, mit Laken verhängen.
Bis es dann soweit war, gab es eine Menge Schwierigkeiten. Die Grundplatten, auf denen die Optik aufgebaut war, paßten nicht zu den Sockeln der Projektoren, die in unserem – ich ertappe mich dabei, wie ich sage »unserem« – Kino für die Stummfilm-Vorführung installiert waren. Passende Sockel jedoch konnten weder Lehmann noch Schulte-Bumke auftreiben. Wilfried half uns. Ein Freund von ihm, Mechaniker, fertigte auswechselbare Grundplatten an, die mit Bolzen und Muttern an den vorhandenen Sockeln befestigt wurden. Die Grundplatten trugen die eigentlichen Apparaturen. Abwechselnd, durch Lösen oder Anziehen von ein paar Schrauben, konnten wir unsere Apparaturen für Stumm- oder Tonfilm benutzen.
Mein Vater gab wieder einmal sein Oblomow-Leben fast auf, jetzt war er häufig im Kinosaal zu sehen, beschäftigte sich mit Basteleien. Eine Bastelei hatte die andere zur Folge. Weil bei Schulte-Bumkes Apparaten zwei Optiken übereinandersaßen, die Bildoptik und die für den Ton, mußten zwei weitere Projektionsfenster in die Mauer gebrochen werden, über den vorhandenen. Mein Vater, der nie eine Maurerkelle von nahem gesehen hatte, übernahm diese Arbeit. Meine Erschöpfungszustände, verursacht durch harte Arbeit bei Flug-Wuttke, ließen sie nicht gelten: »Fauler Sack!« Und: »Ran an die Ramme!«
Bis in die Nacht stand ich auf der Leiter, montierte Schalldämpfplatten, die Werner und Sternchen Siegel mir hinaufreichten. Unbenutzt standen die Ohren der Gänsedaunenkissen in meinem Bett in die Höhe, bis ich, spät, auf mein Lager fiel. Es hätte eine Gefängnispritsche sein können, mit hartgelegenem Strohsack, ich hätte den Unterschied nicht bemerkt.
Es war ein Umbau!
»Fünfzehn Sitze mehr?« schrie Werner. »Und wenn wir dann wieder mal Stummfilm spielen, habt ihr zwar die fünfzehn Sitzplätze, aber keine Kinoorgel mehr!«
Es war Sternchens Vorschlag gewesen, die Orgel rauszuwerfen. »Noch gibt es Kinos, wo man se kann verscheuern«, sagte er, »zu günstige Preise. Was wird sein nachher?«
»Nachher«, brüllte Werner, »wird sein, daß ihr die Orgel zurückhaben wollt, und was dann?«
»Du hängst an de Theorie, der Tonfilm wird einjehen wie ’ne
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