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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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bisherige Laufbahn sprach für sein Ermittlertalent. Mit vierzig Jahren fing er noch einmal bei null an. Zum fünften Mal. Nachdem er Pianist, Lokalredakteur, internationaler Starreporter und Paparazzo gewesen war, verlegte er sich jetzt auf Tratsch aller Art. Man vertraute ihm das Ressort Justiz an. Er verbrachte seine Tage im Gericht, verfolgte die scheußlichsten Verbrechen, beobachtete die Mörder auf der Anklagebank. Vergeltungsakte, niederträchtiger Raub, Eifersuchtsdramen, Kindsmord, Inzest … keine Schandtat fehlte. Mark war enttäuscht. Vom Verhör der Angeklagten hatte er sich die Erkenntnis einer Wahrheit erwartet. Er wollte das Urmerkmal des Verbrechers kennen lernen.
    Was er stattdessen zu sehen bekam, war ungleich erschreckender: Er erkannte gar nichts. Die Banalität des Bösen. Mehr oder minder reumütige, mehr oder minder aufschlussreiche Gesichter. Die immer so wirkten, als hätten sie mit den Ereignissen, über die da verhandelt wurde, nicht das Geringste zu tun. Diese Menschen, die ihre Kinder getötet, ihre Lebensgefährten massakriert, wegen ein paar Euro ihren Nachbarn umgebracht hatten, schienen im Augenblick der Tat von einer unbekannten Macht fremdgesteuert worden zu sein.
    Manchmal beschlich Mark auch das umgekehrte Gefühl, und er dachte, dass der Zerstörungstrieb schon immer da gewesen war und tief im Bewusstsein lauerte. Dass er genetisch im Menschen verankert, in seinem Stammhirn angelegt war – und nur auf die erstbeste Gelegenheit wartete, um hervorzubrechen.
    Die Jahre vergingen. Mark bearbeitete Hunderte von Fällen, berichtete von Prozessen, aber auch von nicht aufgeklärten Verbrechen, kannte sämtliche Mitarbeiter der Kriminalpolizei, die Richter, die Anwälte. Und die Mörder. In der » crim « , dem Morddezernat am Quai des Orfèvres, war er ebenso zu Hause wie im Besuchsraum von Fresnes. Er ging mit den besten Ermittlern essen und interviewte die schlimmsten Killer. Er fahndete, beobachtete, jagte. Aber das Wesentliche entging ihm immer: Das Gesicht des Bösen zu erkennen gelang ihm nie.
    Trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf: Nach fünf Jahren beim Limier wartete er immer noch auf den Fall, das Superverbrechen, das Geständnis, das ihm endlich den Blick auf das schwarze Licht freigäbe. Er war schon ganz in der Nähe – eines Tages würde er ihm zweifellos begegnen.
»Noch einen Kaffee vielleicht?«Wieder stand der Kellner vor ihm. Mark warf einen Blick auf die Uhr: fünf Uhr nachmittags. Die Bilanz seines Lebens hatte mehr als eine Stunde in Anspruch genommen. Er rieb sich die Augen, als käme er aus dem Kino.
    »Nein, danke. Genug für heute.«Der Kellner schenkte Mark ein zufriedenes Lächeln, zumal er ihn seine Unterlagen und Notizen einsammeln sah. Bevor Markaufbrach, suchte er noch die Toilette auf, um sich frisch zu machen. Er fühlte sich so zerknittert wie das Taschentuch eines jungen Mädchens mit Liebeskummer.
    Er betrachtete sich im Spiegel. Wie immer wusste er mit seinem Gesicht nichts Rechtes anzufangen: Sah er aus wie ein Pianist, ein Literaturwissenschaftler, Reporter, Paparazzo, wie ein Gerichtsjournalist? Eher wie ein Kleinkrimineller, zu dem keine dieser Rollen passte. Stämmig, rothaarig, schnauzbärtig, ähnelte er einem verkleinerten Rugbyspieler aus der englischen oder irischen Mannschaft.
    Er hatte sich ein ganzes Sortiment an Accessoires zugelegt, um seine Erscheinung zu verbessern. So trug er nur taillierte, dezent braun und kremfarben gemusterte Westen, über weißen Hemden mit englischem Kragen, deren Manschetten unter den Sakkoärmeln hervorspitzten. Dabei war er nicht sicher, ob das Ergebnis überzeugte. An seinen guten Tagen fand er sich sehr elegant, sehr » british « . An den schlechten kam er sich mit seinen schokoladebraunen, kaffeeschwarz schillernden Westen eher wie das Schaufenster einer Konditorei vor.
    Er tauchte sein Gesicht in kaltes Wasser. Dieser Rückblick auf sein Leben hatte ihn ausgelaugt. Wer war er tatsächlich geworden? Seine Leidenschaft für das Verbrechen nahm ihn ganz und gar gefangen. Der Gedanke brachte ihn auf das Thema des Tages zurück: Jacques Reverdi.
»Ein Massenmörder in den Tropen« – wirklich?
    Er drehte den Wasserhahn ab und warf seine Haare zurück. Es war an der Zeit, sich das Gesicht des Mörders anzusehen.
KAPITEL 4 Reine weiße Linien.
    Ein Zen-Raum von vollendeter Symmetrie.
    Jedes Mal, wenn er hier eintrat, empfand er wieder dasselbe. Dieses professionelle Fotolabor kam ihm vor wie ein Ort der

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