Das schwarze Blut
hätte er also wie jeder andere am nächsten Morgen, dem 31., aus dem Radio oder Fernsehen erfahren müssen.
Aber nein. Um ein Uhr morgens rief Vincent ihn an.
Mark brauchte ein paar Minuten, um zu verdauen, was passiert war: Diana und Dodi al-Fayed entlang dem Seine-Ufer von Paparazzi verfolgt und schließlich der Unfall im Alma-Tunnel. Vincent war einer der Fotografen, die dem Mercedes gefolgt waren. Am Telefon überstürzte er sich förmlich und überschüttete ihn mit Details: zwischen Blechen verkeilte Körper, die Hupe blockiert, sodass ein Dauerton durch den Tunnel hallte, Kollegen, die wie rasend fotografierten, und andere, die erste Hilfe zu leisten versuchten.
Mark ahnte, dass dieser unfassbare Unfall das Ende des Berufsstandes ankündigte – und der Kohle, die damit zu machen war. Das war die langfristige Perspektive. Kurzfristig begriff er, dass der Koloss Fotos geschossen hatte. Und dass ihm die Flucht gelungen war, während die anderen Paparazzi von der Polizei festgenommen worden waren. Für ein paar Stunden war Vincent im Besitz der einzigen Fotos auf dem Markt. Ein Vermögen.
Mark stellte sich die Frage: Bist du ein Mensch oder ein Aasgeier? Statt einer Antwort hörte er sich eiskalt fragen:
»Deine Fotos, sind sie digital?«
Sie verabredeten sich in der Redaktion einer der größten Pariser Zeitschriften. Vincent musste zuerst in aller Eile seine Bilder entwickeln – er fotografierte nicht mit Digitalkameras. Mark tauchte um halb drei auf. Als er die Leute sah, die noch im Arbeitskittel am Leuchttisch zugange waren, wurde ihm klar, dass sich die Lage verschlimmert hatte. Diana lag im Krankenhaus La Pitié-Salpêtrière und rang mit dem Tod. Nach zweimaligem Herzstillstand wurde sie jetzt operiert.
Mark trat an den Tisch, auf dem die Dias ausgebreitet waren. Er hatte Bilder von aufgerissenem Fleisch, von Blutspuren auf zerbeultem Blech, einem abscheulichen Gemetzel erwartet. Stattdessen sah er das durchscheinende, leuchtende Gesicht der Prinzessin. Ihre geschlossenen Lider waren leicht geschwollen, ein Tropfen Blut rann ihr über die Schläfe – sonst war ihre Schönheit unversehrt. Mehr noch, auch unter den Anzeichen der Quetschung schien sie von erschütternder Frische und Jugendlichkeit. Sie war ein Fleisch gewordener Engel, mit Schatten unter den Augen, Prellungen, blutigen Wunden, und von einer Ausstrahlung, die einem die Kehle zuschnürte.
Viel schlimmer war ein anderes Bild – zweifellos das letzte, das Diana bei wachem Bewusstsein zeigte. Es war ihr verängstigter, vom Blitzlicht erfasster Blick durch das Rückfenster des Wagens zu den Fotografen, die Jagd auf sie machten. In diesem Blick erkannte Mark die Wahrheit. Nicht an einem fatalen Fehler des Fahrers starb die Prinzessin, auch nicht wegen der Fotografen, die ihr an diesem Abend auf den Fersen waren, sondern wegen der endlosen Jahre der Verfolgung, der Hetzjagd und dauernden Beobachtung, nicht nur der Paparazzi, sondern der ganzen Welt. Sie starb an der Neugier der Menschen, an dieser dunklen Macht, die sämtliche Blicke gebannt und sämtliche Begehrlichkeiten auf sie gerichtet hatte. Eine Treibjagd, die vor Urzeiten begonnen hatte, aus dem unwiderstehlichen Drang heraus, alles zu sehen, alles zu wissen, der dem Menschen im Blut liegt.
»Eins sag ich euch. Ich verkaufe sie nicht.«
Mark kannte den Fotografen, der gesprochen hatte: Tränen standen ihm in den Augen. Offensichtlich stammte das Bild »Rückfenster« von ihm; die übrigen Fotos – Diana zwischen zerbeultem Blech – waren von Vincent. Mark suchte seinen Blick: Der Koloss wirkte fassungslos, schwankend stand er da, den Sturzhelm in der Hand.
Mark musterte die anderen – die Journalisten vom Dienst, den Leiter des Fotoservice, der mitten in der Nacht aus dem Bett geholt worden war. Alle waren bleich, geradezu fahl im Licht des Leuchttisches, das sie von unten beschien. In diesem Moment wurde ein stillschweigendes Abkommen getroffen, ohne dass ein Wort fiel: Diese Bilder würde niemand verkaufen oder veröffentlichen.
Um vier Uhr kam die Nachricht von Dianas Tod.
Nun brach eine fieberhafte Hektik aus. Die Mobiltelefone liefen heiß. Aus aller Welt kamen die Angebote der Redaktionen. Die Gebote überschlugen sich. Verstohlen beobachtete Mark Vincent und ein paar andere Fotografen, die inzwischen mit weiteren Abzügen eingetroffen waren. Sie reagierten zögernd, im Bewusstsein des Jackpots, der von Minute zu Minute wuchs. Manchmal sahen sie ihr Spiegelbild in den
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