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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Meditation. Ein Vorzimmer mit weißen Wänden, an denen schwarz gerahmte Abzüge hingen. Dann ein Flur mit kleinen Hängelampen, der zum eigentlichen Labor führte. Die Fotografen gaben hier ihre Filme ab und bekamen ihre Abzüge zurück. Auch hier wieder Weiß und Reinheit … alles schien darauf ausgelegt, den Geist leer werden zu lassen, die Seele zu sammeln. Sogar die Leuchttische, weiß funkelnde Blöcke, deren milchiger Widerschein auf den Gesichtern der Reporter lag, begannen irgendwann futuristischen Gebetsstühlen zu ähneln.
    Mark hatte sich für 17.30 Uhr mit Vincent Timpani verabredet. Es war schon sechs Uhr, doch der Koloss war wie immer zu spät. Auf dem Weg zur Cafeteria entdeckte er ein bekanntes Gesicht: Milton Savario, Fotograf aus Südamerika und Nachrichtenreporter der Spitzenklasse. Ein Hungerkünstler, der immer wie ein Überlebender zwischen zwei Kriegen wirkte.
    Savario winkte ihm zu. Sie tauschten einen Händedruck. Mit einer Kopfbewegung deutete Mark zu den auf dem Leuchttisch ausgelegten Dias hinüber:
    »Fotografierst du nicht digital?«
»Nicht bei dieser Art Thema.«
»Worum geht’s?«
»Den Hunger in Argentinien.«
»Darf ich?«
Mark griff nach dem Fadenzähler, einer kleinen Lupe aufeinem verchromten Gestell, und beugte sich über die Dias. Ein zaundürres Kind mit ausgemergeltem Gesicht, an InfusionsSchläuchen auf einem Klinikbett. Ein grünlicher Säugling mit riesigem Schädel in einem Sarg mit kleinen Engelsflügeln. Eine Krankenschwester mit einem leblosen Kind in den Armen, die Beine nur noch zwei lange, reglose Knochen, auf einer grauen Treppe. Mark richtete sich wieder auf.
    »Das muss hart gewesen sein?«
»Was?«
»Na, diese Kinder, die Hungersnot …«
Savario lächelte. Mit seinem Dreitagebart und seinerstruppigen schwarzen Mähne sah er aus, als hätte er sich mit Holzkohle geschminkt.
    »Es gibt keine Hungersnot in Argentinien.«
»Und diese Fotos?«
Der Südamerikaner schob wortlos die Dias in einen Umschlag,legte seinen Fadenzähler zusammen und schaltete den Leuchttisch aus.
    »Ich lad dich auf einen Kaffee ein. Dann erzähle ich’s dir.« Sie gingen in die Cafeteria. Auch hier war alles weiß, Automaten, Tischchen, Stühle. Der Fotograf schwang sich aufeinen hohen Barhocker.
»Es gibt keine Hungersnot«, wiederholte er und blies auf seinen Becher mit kochend heißem Kaffee. »Wir sind alle drauf reingefallen.«
Aus seiner Fototasche zog er das Bild eines Kindes mit Infusionsschlauch und deformierten Gliedmaßen hervor. »Von wegen Hunger. Das ist Kinderlähmung.«
»Kinderlähmung?«
»Das Foto ist wohl irrtümlich in Umlauf gekommen. In den Agenturen. Im Internet. Wir haben uns alle draufgestürzt. Eine Hungersnot in Argentinien, das schien uns doch unglaublich.
Aber vor Ort, in Tucumán, keine Spur von Hunger.« »Was hast du gemacht?«
»Dasselbe wie alle anderen: Ich hab den kleinen Poliokranken fotografiert. Weißt du, was ein Ticket nach Argentinien kostet?« Weitere Erklärungen waren überflüssig. Nachdem das Geld schon mal ausgegeben war, konnte Savario unmöglich mit leeren Händen zurückkehren. Also machte er ein paar Aufnahmen von einem ausgemergelten Kind, ein paar weitere von Polykliniken, von elenden Slums, und die Sache war geritzt.
Irgendein Magazin fand sich immer, das die Bilder kaufte und sich über Unterernährung ausließ. Niemand hatte rundheraus gelogen, die Ehre war gerettet – und das Geld gut angelegt. Der Latino hob seinen Becher:
»Auf die Information!«
Mark trank ihm zu. Er war dem Mahlstrom der Agenturen entronnen, seit fünf Jahren, seitdem er sich mit der Gerichtschronik befasste, doch er konstatierte mit einer gewissen Genugtuung, dass sich nichts, absolut nichts geändert hatte.
»Na, wird wieder die Welt umgeschrieben?«, tönte eine tiefe Stimme hinter ihnen.
Mark drehte sich auf seinem Hocker herum und erblickte Vincent Timpani. Ein Meter neunzig, hundert Kilo, halb Muskeln, halb erschlafftes Fleisch, in einem hellen Leinenanzug, in dem er aussah wie ein Pflanzer in den Tropen.
Rätselhafterweise war er von immerwährend sonnigem Gemüt:
Er stammte aus Nizza und hatte sich einen leichten südlichen Akzent bewahrt.
Mit fröhlichem Lachen begrüßte er Mark und Savario und ging dann zum Getränkeautomaten hinüber. Savario nutzte die Gelegenheit, um sich zu verdrücken. Vincent kam mit einer Coladose in der Hand zurück und sah dem Fotografen nach: »Hab ich den Helden etwa in die Flucht geschlagen?« »Hast du die

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