Das schwarze Blut
kaum erwachsene Körper, mit Idealmaßen gesegnet; milchweiße, makellose Haut; Gesichter von katzenartiger Eleganz. »Soll ich eine anrufen?«, fragte Vincent mit einem Augenzwinkern.
»Sorry«, antwortete Mark und gab die Bilder zurück. »Ich bin nicht in Stimmung.«
Mit leiser Verachtung nahm Vincent seine Fotos wieder an sich.
»Du bist nie in Stimmung. Da liegt dein Problem.«
KAPITEL 5
Die Gesichter waren da.
Vertraut und erschreckend zugleich.
Verzerrt, platt gedrückt, deformiert hinter dem Rattangeflecht.
Jacques Reverdi zügelte seine Angst und stellte sich ihnen: Er sah die abgeflachten Wangen, die in Falten gelegten Stirnen, die verfilzten Haare. Ihre Augen suchten ihn im Halbdunkel auszumachen, ihre Hände krallten sich in die Wände. Er hörte auch ihre gedämpften Stimmen, die durcheinander flüsterten, verstand aber nicht, was sie sagten.
Bald erkannte er Einzelheiten, die nicht sein konnten. In einem Gesicht waren die Lider zugenäht, ein anderes hatte keinen Mund, nur geschlossene Haut zwischen den Wangen, wieder ein anderes ein Kinn wie ein Vordersteven – als wäre der Knochen, maßlos vergrößert und aufgebogen, nahe daran, die Haut zu durchstoßen. Ein anderes schwitzte dicke Tropfen, aber dieser Schweiß, sah er, bestand aus verflüssigtem Fleisch, sodass bald alle Gesichtszüge verschwammen und zu einem zähen Brei zerrannen.
Jacques begriff, dass er noch schlief. Diese Gesichter stammten aus seinem wohlbekannten Albtraum, dem Traum, der ihn nie verließ. Er zwang sich zur Ruhe. Er wusste, dass ihn diese Ungeheuer hinter den Rattanhalmen nicht sehen konnten – in der Dunkelheit war er sicher vor ihnen. Niemals würde es ihnen gelingen, den Schrank zu öffnen und ihn aus seinem Versteck zu zerren.
Trotzdem – er spürte auf einmal, wie ihre Monstrosität nach und nach durch das Rattangeflecht drang und in die Poren seiner Haut einsickerte. Sein Gesicht hob sich an, die Muskeln dehnten sich in die Länge, die Knochen knackten … er ähnelte ihnen immer mehr; er verwandelte sich in »sie«! Er biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Sein Gesicht verzerrte sich, es zerfiel, doch er durfte nicht schreien, er durfte nicht verraten, dass er in diesem Schrank war, er …Sein Körper versteifte sich, der Brustkorb erstarrte. Sein ganzes Sein verriegelte sich gegen die Außenwelt. Er stellte sich vor, wie sich die Baumstruktur des Atemapparats über der Dunkelheit der inneren Organe schloss. Das war die Apnoe, die er bevorzugte – die sanfteste und natürlichste. Der nächtliche Atemstillstand, der die Neugeborenen im Schlaf überrascht und manchmal auch umbringt.
Jacques schlief nicht mehr, hielt aber die Augen geschlossen. Er zählte die Sekunden. Er brauchte keine Uhr und keinen Sekundenzeiger: Sein Pulsschlag war seine Uhr. Verlangsamt. Beruhigt. Nach ein paar Sekunden verstummten die Stimmen, kurz darauf verblassten die Gesichter. Die Rattanwände wichen zurück, als hätte der Druck auf der anderen Seite nachgelassen. Er war der Stärkere. Stärker als die Blicke, als die Ungeheuer, als die …Er öffnete die Augen, sein Kopf war vollkommen leer. Er holte tief Luft. Doch er bekam etwas anderes, das bitter und köstlich zugleich war. Einen Mund voll grünen Tee. Wo war er? In langen Wogen kehrte sein Bewusstsein zurück. Er lag ausgestreckt in der Dunkelheit. Die Hitze war allgegenwärtig. Seine fünf Sinne begannen mit ihrer Sondierungsarbeit. Er spürte den heißen Wind im Gesicht. Dann einen schweren, berauschenden, beinahe widerlichen Geruch: das Aroma des Waldes. Die Üppigkeit der Vegetation.
Gedämpfte Geräusche. Stimmen. Ganz andere als in seinem Albtraum. Sie bemühten sich, Englisch zu sprechen, mit starkem malaiischem Akzent: »Hello … Hello …«, »Cigarettes?«Er drehte den Kopf nach rechts und erkannte zwischen grün gestrichenen Holzstäben dunkle, verwirrte runde Gesichter. War er im Gefängnis? Er blickte nach links. Ein unermesslicher, sternenflimmernder Nachthimmel. Nein. Er war im Freien.
Er zwang sich, ruhig zu bleiben – und alles genau zu analysieren. Es war Nacht. Eine blau-grüne Nacht voller tropischer Düfte. Er lag in einer Galerie. Links ein weiter betonierter Innenhof, rechts die Gitterwand, hinter der sich Menschen drängten, Häftlinge: In ihrem Rücken erkannte er einen großen Saal mit eisernen Betten. Er war also doch im Gefängnis. Allerdings in einem Freiluftgefängnis.
Unwillkürlich versuchte er aufzustehen, doch es ging nicht:
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