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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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sonderbares Geräusch auf. Ein langsames, träges Flüstern, das er, wie ihm jetzt klar wurde, schon die ganze Zeit unterschwellig wahrgenommen hatte.
Er wandte den Kopf und sah hinter den Bienenstöcken eine dicht gefügte Wand aus leuchtend grünen, leichten, lanzettförmigen Blättern, die wie Wellen wogten. Bambus. Zu Soms »forstwirtschaftlichem Laboratorium« gehörte auch ein Bambuswald.
Er kehrte dem raschelnden Geraune den Rücken und trat an einen Verkaufstisch, auf dem Flaschen und Gläser mit Honig standen. Er musste auf den Anlass seines Besuchs zurückkommen.
»Hat Reverdi diesen Honig bei Ihnen gekauft?«, fragte er.
Im Handumdrehen war der quirlige Imker neben ihm.
»Nein. Das Honig zum Essen. Jacques hat Heilhonig gekauft.«
»Heilhonig?«
Der Imker nahm ein kleines Fläschchen in die Hand: »Sehr seltener Honig, der Wunden verschließt.« Er drückte Daumen und Zeigefinger zusammen. »Lässt Blut gerinnen. Wie sagt man? Blut-stil-lend.«
Mark nahm ihm die klebrige Phiole aus der Hand. Überall schwirrten wieder die Bienen.
»Mit diesem Honig kann man blutende Wunden verkleben?«
»Bestes Mittel für Narbenbildung. Jacques kauft ihn für Verletzungen durch Korallen – verheilen nie. Mit diesem Honig kein Problem mehr … Honig auf Wunde, Honig trocknet, Adern und Haut verschließen sich. Wenige Sekunden, unglaublich!«
Mark hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
Er betrachtete das golden schimmernde Glas, als wäre es der Tiegel eines Alchemisten. Wie Hammerschläge hallten WongFats Worte in seinem Kopf wider: »Seitdem ich weiß, dass Reverdi ein brutaler Mörder ist, kann ich mir denken, was er den Mädchen antut.« Und er hatte hinzugefügt: »Es ist unvorstellbar.«
Mark hätte beinahe zu lachen begonnen.
Zugleich schauderte er vor Entsetzen.
Ja, es war wirklich unvorstellbar.
Jetzt hatte auch er die abscheuliche Grausamkeit des Rituals begriffen.
    Modus operandi.
Während er mit Vollgas den Weg zurückfuhr, zog er Bilanz. Als Ausgangspunkt nahm er Dr. Alangs Überlegung: Wozusiebenundzwanzig Messerstiche, wenn schon der zweiteEinschnitt genügt hatte, um das Opfer ausbluten zu lassen? Antwort: Weil noch kein Blut geflossen war.
Reverdi bestrich jeden Einschnitt mit dem schnelltrocknenden, blutstillenden Honig. So konnte er seinem Opfer tiefe Wunden zufügen und gleich wieder verschließen. War das Werk vollendet, sorgte er dafür, dass alle Schnitte auf einmal, mit einem Schwall zu bluten begannen.
    Wie?
Mit einer Flamme.
Mit einer Kerze oder einem Feuerzeug verflüssigte er denHonig. Die Wunden platzten wieder auf, und das Blut ergoss sich in Strömen.
    Den Beweis für dieses letzte perfide Manöver lieferten ihm die Brandspuren, die ihm auf den Fotos aufgefallen waren. Alang hatte die Vermutung geäußert, dass Reverdi mit der Flamme versucht habe, die Blutgerinnung zu verhindern. Doch er irrte sich: Die Hitze verflüssigte den Honig.
    Damit war ein weiteres Rätsel gelöst: der hohe Blutzuckerspiegel. Alang hatte, bedingt durch die Aufnahme zuckerhaltiger Nahrungsmittel, einen körperintern erhöhten Blutzuckerspiegel vermutet. Es verhielt sich genau umgekehrt: Der Zucker war erst außerhalb des Körpers ins Blut gelangt, nachdem der Honig sich verflüssigt und sich mit dem aus den Wunden austretenden Blut vermischt hatte.
    Mark hielt sich krampfhaft am Lenker fest, die Straße verschwamm ihm vor den Augen. Nun hatte er sämtliche Antworten auf Reverdis Fragen. Er hatte seine Geheimsprache entschlüsselt.
    Wegmarken, die »schwirren und schwärmen«?
    Mit Honig bestrichene Wunden, die im symbolischen Sinne von Bienen »bewohnt« wurden.
Wegmarken »der Ewigkeit«?
Eine Umkehrung der Zeit: Schnitte, die erst tödlich wurden, wenn das Opfer längst hätte tot sein sollen.
Hatte ihm Reverdi nicht einen Hinweis gegeben: »Denke immer daran, dass es nur einen Weg gibt, die Ewigkeit zu betrachten: sie ein paar Augenblicke lang festzuhalten«?
Ja, mit diesem Honig hielt Reverdi den Tod zurück.
Er hielt den Lebenssaft zurück. Um ihn auf einmal freisetzen zu können.
Und sein Opfer in eine Blutfontäne zu verwandeln.
Unerträglich grell lag die Mittagssonne auf den weißen Wänden seines Zimmers. Mit einer raschen Handbewegung zog er die doppelten Vorhänge zu. Das Halbdunkel beruhigte ihn. Gefiltert durch den braunen Stoff, war das Licht nur noch orange getönter Widerschein: goldbraun wie Tee. Er griff nach seinem Aktenkoffer mit dem Computer darin – doch im

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