Das schwarze Blut
ein Blitz, und er fuhr auf: Er musste die Welt an seinen Erkenntnissen teilhaben lassen. Eine Recherche wie diese, mit derart fulminanten Ergebnissen, konnte, ja durfte er nicht für sich behalten.
Ein Buch.
Er würde ein Buch darüber schreiben.
Einen Bericht über sein Abenteuer: eine einzigartigeDokumentation seines Abstiegs in die Hölle. Er musste seine Erlebnisse bekannt machen, aller Welt das Geheimnis aufdecken, dem er auf der Spur war. Er stand kurz davor, wie ein Wissenschaftler ein bösartiges Virus zu isolieren. Ein einschneidendes Ereignis in der Geistesgeschichte!
Doch im selben Augenblick kam die jähe Ernüchterung und traf ihn wie ein Schlag. Nichts dergleichen würde er tun. Er konnte nichts veröffentlichen! Auch nicht nach Reverdis Hinrichtung. Einfach deshalb, weil er selbst sofort wegen »Unterschlagung von Beweisen« und »Behinderung der Justiz« belangt würde. Damit wäre offenkundig, dass er in aller Heimlichkeit seine privaten Ermittlungen angestellt hatte, dass er wesentliche Informationen in Erfahrung gebracht, aber ohne mit der Wimper zu zucken, ohne im Geringsten zur Aufklärung beizutragen, den Prozess beobachtet hatte.
Einhellig würde die Welt seine niederträchtigen Methoden – seinen Betrug, seine Lügen – verurteilen. Und seine Gleichgültigkeit gegenüber den Familien der Opfer. Nicht ein einziges Mal hatte er daran gedacht, die unglücklichen Eltern über die Todesart ihrer Kinder aufzuklären …Ein Schuft von einem Journalisten, ein Ausbund an Zynismus, der eine Bestrafung verdient hatte: Das wäre der Lohn, der ihm zustand.
Zu schweigen davon, dass er ja schon zwei Mal verurteilt worden war, 1996 und 1997, wegen »Belästigung«, »Verletzung der Privatsphäre« und »Einbruchsdiebstahl«. Nur um ein Haar war er der Haft entgangen. Diesmal wäre ihm der Knast sicher.
Er versuchte sich zu entspannen und der Enttäuschung Herr zu werden. Wieder konzentrierte er sich auf den Ventilator, versuchte im Geist die Bewegung anzuhalten und den Rotorflügel deutlich zu sehen. Während sich seine Aufmerksamkeit fokussierte, nahm ein anderer Gedanke nach und nach Gestalt an. Noch war er wirr und undeutlich, aber vielleicht fand er den Weg aus dem Tunnel …Dann stand es ihm klar vor Augen: ein Roman. Natürlich! Er musste einen Roman schreiben, der die Wahrheit berichtete, ohne dass es jemand merkte. Er brauchte nur die offiziellen Fakten, wie sie in den Medien veröffentlicht worden waren, zu verschleiern, und alle Welt würde eine fiktive Geschichte vermuten. Ja. Er würde einen Roman schreiben, der in jeder Hinsicht »wahr« klang, weil alles oder fast alles darin wahr war.
Er fühlte sich wie von einer Woge erfasst. Etwas, das jahrelang tief verschüttet gewesen war, trat an die Oberfläche. Seine einstigen Träume, Dichter zu werden, seine enttäuschten Hoffnungen als Schriftsteller. Vor wie vielen Jahren hatte er sich von der Idee verabschiedet, ein literarisches Werk zu verfassen? Vor wie vielen Jahren hatte er sein Projekt auf den Abfallhaufen seiner Enttäuschungen geworfen?
Jetzt war es beschlossene Sache.
Er würde aus seiner Geschichte einen gnadenlosen Thriller machen. Geschrieben in der ersten Person.
Nach dem Diktat eines Mörders.
KAPITEL 53
Jacques Reverdi betrachtete die Leiche von Hadschdscha Elahe Tengku Nouma, einem Mitglied der königlichen Familie des Sultanats Perak.
Der Knabe war tot in seiner Zelle aufgefunden worden. Um drei Uhr morgens, bei einem Kontrollgang.
Daraufhin hatten zwei »Freiwillige« antreten müssen, um denToten fortzutragen; der eine war Reverdi. Sie hatten ihn in die Ordination der Krankenstation gebracht, von wo er in die Leichenhalle des Zentralkrankenhauses überführt werden sollte. Schlaftrunken hatte Dr. Gupta Jacques zur Totenwache eingeteilt und war ins Bett zurückgekehrt.
Dem ersten Anschein nach lag ein Selbstmord vor. Der junge Adlige hatte sich mit dem Kabel seines Fernsehers in seiner Zelle erhängt. Tod durch Strangulation: So weit stimmte Reverdi zu. Aber sicher nicht aus freien Stücken. Der Knabe war auf dem Boden kniend, mit gebrochenen Halswirbeln gefunden worden: Das Kabel, das ihn erdrosselt hatte, hing am Abflussrohr des Waschbeckens.
Wer erhängt sich kniend, mit reiner Willenskraft?
Ein Mann wie Jacques vielleicht, aber sicher kein Weichling wie Hadschdscha.
Ein Muttersöhnchen, dessen halbherzige Befreiungsversuche sich in den Fesseln des elterlichen Reichtums verfangen hatten. Als Reverdi mit dem Toten
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