Das schwarze Blut
selben Moment, als er den Deckel aufklappte, befiel ihn eine Halluzination.
An der Wand gegenüber seinem Bett sah er, wie auf einer Kinoleinwand – den Mord an Linda Kreutz. Er brach auf dem Bett zusammen und starrte auf die grauenerregende Vorführung.
Jacques Reverdis Zeremonie.
KAPITEL 52
Es war eine Hütte.
Eine Hütte mit einem Dach aus Palmblättern und Wänden aus Rattangeflecht. Im hinteren, verschatteten Teil des Raums war eine junge Frau, nackt, an einen Stuhl gefesselt. Sie wand sich, konnte sich aber keinen Zentimeter rühren, auch der Stuhl war am Boden befestigt und ließ sich nicht bewegen. Sie versuchte zu schreien, doch ein Knebel erstickte jeden Laut. Nur ihre duftige Haarmähne wehte, lautlos, wie eine verzweifelte Standarte.
Mark hätte nicht erklären können, weshalb, doch er »sah« die Kerzen, die im Halbkreis auf dem Boden vor ihr aufgestellt waren. Jetzt verschob sich die Perspektive seitwärts, und Reverdi erschien im Bild; auch er war nackt und saß mit gekreuzten Beinen jenseits der flackernden Kerzen. Er schien zu beten – jedenfalls war er in tiefe Andacht versunken.
Dann sprang er jäh auf. In seiner rechten Hand wurde ein Tauchermesser sichtbar, das sich im Kerzenschein in einen goldenen Schaft verwandelte. Er legte die Messerspitze unter Lindas rechtem Schlüsselbein an. Die von den Fesseln zusammengedrückte Haut wölbte sich und schien die Klinge förmlich einzuladen: Sie drang mühelos ein.
Mark stöhnte auf.
Reverdi ließ das Messer im Körper und bestrich mit dem honigglänzenden Pinsel, den er in der anderen Hand hielt, die Umrandung der Wunde. Erst jetzt zog er ganz langsam das Messer heraus und betupfte währenddessen den Einschnitt mit Honig. Als er merkte, wie der Honig antrocknete und die Wundränder verschloss, zog er die Klinge vollends heraus.
Gleichgültig gegen die stummen Schreie der Frau, ihr nutzloses Aufbäumen, machte er sich an den nächsten Einschnitt. Eine weitere Wegmarke der Ewigkeit entlang dem Weg des Lebens. Und es folgten noch eine und noch eine … Mark sah das alles an der Wand seines Zimmers. Das goldbraune Zwielicht in der Hütte. Den zuckenden Schatten des Mörders an den geflochtenen Wänden. Die beiden nackten, von Schweiß glänzenden Körper, in einer subtilen Mischung aus Sinnlichkeit und Andacht miteinander vereint.
Mark wusste nicht mehr, ob er träumte oder wachte, jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen. Plötzlich stellte er fest, dass der Körper nun bereit war: übersät von Einschnitten, glänzend von Honig, doch ohne den kleinsten Blutstropfen – bereit, sich zu ergießen.
Bedächtig legte Reverdi Pinsel und Messer beiseite und nahm eine Kerze zur Hand. Geschickt und zielsicher liebkoste er jede Wunde mit der Flamme, bis der dünne Honigfilm sich wieder verflüssigte. Jedes Mal entstanden über dem Einschnitt ein paar goldene Blasen. In Sekundenschnelle klaffte das Fleisch auseinander, quoll das Blut hervor. So rasend schoss das Licht hin und her, dass es aussah, als führte der Mörder einen Blitz in der Hand.
Wie der Deich unter der Wucht der herandrängenden Flut nachgibt und bricht, so brach auch der Körper der jungen Frau auseinander. Mit weit aufgerissenen Augen sah Linda Kreutz ihr Blut fließen; den Entsetzensschrei erstickte der Knebel. Ihre gebräunte Haut verwandelte sich in ein grauenhaftes Überschwemmungsgebiet, auf dem sich Bäche, Flüsse, Ströme ausbreiteten. Unaufhörlich rann das Blut, färbte den Körper dunkel, ergoss sich über die Bodenbretter und machte aus der Hütte eine abscheuliche Büchse der Pandora.
Mark stürzte zur Toilette. Er erbrach seine Angst, seinen Abscheu, die Intensität seiner Vision. Er erbrach seine Nähe zu dem Mörder. Er erbrach den Mörder, der sich in ihm eingenistet hatte. Die Krämpfe warfen ihn zu Boden. Er bäumte sich, rang nach Atem, spie seine Seele aus … Als der Anfall vorbei war, ließ er sich zurücksinken und legte das Gesicht seitlich an die Schüssel. Die Kühle der Keramik erschien ihm grenzenlos wohltuend. Doch sein Gesicht brannte noch immer. An den Schläfen, wo die Äderchen geplatzt waren, fühlte er ein Kribbeln wie von tausend Ameisen. Ohne seine Lage zu verändern, streckte er den Arm zum Waschbecken aus und tastete nach dem Hahn. Er ließ das Wasser laufen und hielt die Hand in den Strahl.
So vergingen viele Minuten, während sich nach und nach eine Kühle in seinem Organismus ausbreitete. Endlich konnte er aufstehen. Er spritzte sich kaltes
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