Das schwarze Blut
ein Schild. Keine Menschenseele weit und breit. Linker Hand hinter den Bäumen, nach der ersten Biegung des Flusses, zeichnete sich schemenhaft etwas ab.
Er setzte seinen Weg wieder fort. Die Straße wurde immer trockener und staubiger, dürre Blätter schabten raschelnd über den Boden. Mark behielt ständig das andere Ufer im Blick – er spürte, dass dort gleich etwas zum Vorschein kommen würde.
Und auf einmal sah er, über Seerosen und üppigem Grün, die legendären Türme von Angkor Vat aufragen: fünf aufgefächerte Maiskolben mit ziselierten Konturen, die im kollektiven Gedächtnis zum Symbol des Dschungeltempels schlechthin geworden sind.
Mark traute zuerst seinen Augen nicht – es mutete ihn sonderbar fremd an, wie immer, wenn er vor einem weltberühmten Bild oder Bauwerk stand. Seine Vorstellung deckte sich nicht mit dem realen Anblick. Es kam ihm alles falsch vor. Misstönend. Doch gleich darauf empfand er das Gegenteil: eine so selbstverständliche Vertrautheit, als hätte er seit jeher in der Nähe dieser Gebäude gelebt.
Er hielt nicht an. Seiner Landkarte zufolge war es bis zum anderen Haupttempel, dem Bayon, in dessen Nähe der Imker seinem Gewerbe nachging, noch ein gutes Stück. Er fuhr weiter den wieder schnurgeraden Weg am Fluss entlang.
Zehn Minuten später tauchte am Ende einer steinernen Brücke ein monumentales Tor, ein aus graugrünen Quadern errichteter Spitzbogen auf, vor dem steinerne Krieger und Drachen Wache hielten. Über dem Tor lächelte ein riesiges sanftmütiges Gesicht, das Weisheit und Milde ausstrahlte.
Jenseits des Flusses erstreckte sich immer noch Wald – das Gelände der Anlage war von schwindelerregenden Ausmaßen. Der hohe, luftige Dschungel schien kein Ende zu nehmen. Mark ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen, atmete die sonnendurchflutete Luft und bestaunte die Landschaft – die hohen aschgrauen Stämme, das gewaltige Blätterdach, das sich wie offene Arme über ihn breitete.
Am Ende des Weges sahen die Bäume wie erstarrt aus. Mark glaubte an eine optische Täuschung. Doch die Wipfel rührten sich nicht, die Blätter raschelten nicht. Sie bildeten Silhouetten, Kurven, Ornamente. Stein. Er stand vor dem ersten Tempel, der direkt aus dem Wald herausgehauen schien. Im tiefen Dickicht tauchten auf einmal Türme und Terrassen auf. Bei genauerem Hinsehen korrigierte Mark seinen ersten Eindruck: Er sah Gesichter. Gesichter im Dschungel … Jede Lateritfläche, jeder Sandsteinblock zeigte eine Stirn, einen Blick, ein Lächeln. Wie eine stille, gemächliche Prozession von Göttern kam der Tempel auf ihn zu.
Er war am Ziel. Das war der Bayon, der »Wald der Gesichter«. Mark umrundete ihn. Auf der dritten Seite der Anlage entdeckte er am Ende einer Treppe eine reliefgeschmückte Mauer. Er stellte den Motorroller ab und stieg über die auf dem Boden verstreuten Steinbrocken hinweg.
Diese Fassade war verblüffend vielschichtig: Mehrere stufenförmig ansteigende Terrassen stellten jeweils Dutzende von Gesichtern mit den verschiedensten Mienen und Kronen dar, aus Stein gemeißelte, fein gearbeitete Tänzerinnen und Krieger zierten die Mauernischen.
Mark dachte an die Künstler, die diese Wunderwerke geschaffen hatten, und meinte ihre Gedanken lesen zu können. Es war ihm, als zeigte jedes winzige Detail einen Aspekt ihres Bewusstseins, ihres Strebens, ihrer Obsessionen. Dieser Gedanke brachte ihn zu Reverdi zurück.
»Such das Fresko.«Hier also war der Ort, den Reverdi ihm bezeichnet hatte. Er meinte diese Reliefs, deren vorrückende Soldaten das Reich des Imkers »betrachteten«.
Ja, ganz sicher: Der Honig war nicht mehr fern.
KAPITEL 51
Fünfzig Meter weiter in der Verlängerung der Reliefs, hinter einer Gruppe hoher Kapokbäume, entdeckte Mark das Haus. Genauer gesagt waren es zwei Gebäude, die im rechten Winkel zueinander standen: schmutzige Wände, die Dächer voll von welkem Laub. Ein Schild verkündete stolz: FORSTWIRTSCHAFTLICHES LABORATORIUM. Links daneben reihten sich, umschwirrt von summenden Wolken, Dutzende erhöhter Holzkästen aneinander: die Bienenstöcke. Dazwischen tobten Kinder, die sich wie wilde Katzen aufführten, sie schrien, tanzten, liefen zwischen den Reihen hin und her und standen an Quirligkeit den Insekten nicht nach. Inmitten der Horde entdeckte Mark eine Gestalt, die kaum größer als die Kinder, aber sehr viel älter war. Der »Meister des Goldes« – ein unverdienter Ehrenname, wenn man ihn so sah. Ein zaundürrer Zwerg,
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