den Eimer mit den Innereien entdeckte.
Jacques lächelte wenige Zentimeter vor seinem Gesicht.
Er spürte Nadel und Faden unter der Zunge. Auf Malaiisch fragte er: »Weißt du noch, was ich mal zu dir gesagt habe?«
Raman zitterte, seine Augenlider zwinkerten.
Reverdi gab die Antwort selbst: »Lieber tot zusammengeflickt als lebendig.«
Mit einer blitzschnellen Geste stieß er die Klinge tief in Ramans Bauch und zog sie bis zum Brustbein herauf.
KAPITEL 61
Gegen Mittag wachte Mark wieder auf.
Das Zimmer war lichtdurchflutet. Die Bettlaken hätte man auswringen können. Er hatte keinerlei Erinnerung an einen Traum, wie er mit Erleichterung feststellte. Seine Hand hielt noch das zerknitterte Foto von Khadidscha. Er legte es wie einen heiligen Gegenstand beiseite, und dabei fiel sein Blick auf den Computer auf dem Stuhl gegenüber dem Bett.
Sein Rettungsanker, sein Markstein, sein einziger Anhaltspunkt.
Er streckte den Arm danach aus.
Von:
[email protected] Gesendet: 3. Juni 2003 08:10 An:
[email protected] Betreff: RANONGMein Liebes, du hast die Kammer der Reinheit betreten und bist, ohne es zu ahnen, in SEIN Herz eingedrungen. In das schlagende Herz des Höchsten Meisters. Wieder hast du auf Anhieb die Spur erkannt. Wieder ist es dir gelungen, in Verbindung mit SEINEM WERK zu treten.
Lise, ich liebe deine Worte, deine Ableitungen, deine Erkenntnisse. Deine Art, das Unsägliche zu erfassen und zu beschreiben. Wie klares Wasser die von IHM gezogenen Furchen zu füllen. Es bleibt dir ein letztes Geheimnis aufzudecken. Die früheren Etappen, die bisher ausgelegten Spuren waren nur die Vorstufen zu diesem Ziel. Der Farbe der Wahrheit.
Denn dies ist der Zweck des WERKS: für Sekundenbruchteile die Farbe der Wahrheit zu erkennen – die zugleich die Farbe der Lüge ist.
Wenn du meine Anweisungen buchstabengenau befolgst, wirst du sie dir zumindest vorstellen, wenn nicht mit eigenen Augen betrachten können.
Unser Austausch wird künftig auf anderem Weg erfolgen müssen. Aus Gründen, die ich dir später erkläre, ist hier in Kanara bald die Hölle los. Vermutlich werde ich dir in den nächsten Tagen weder schreiben noch deine Mails empfangen können.
Ich füge dieser Nachricht also mehrere Anhänge bei, die du in chronologischer Reihenfolge öffnen sollst. Aber Vorsicht: Du musst immer erst die Anweisungen einer Nachricht ausführen, ehe du die nächste öffnest. Das ist eine wesentliche Bedingung. Davon abgesehen, kannst du sie ohnehin nur begreifen, wenn du dich streng an diese Regel hältst. Das Ziel ist fast erreicht, meine Geliebte. Sobald du die Letzte Erkenntnis besitzt, werde ich sozusagen frei sein. Ich werde nackt vor dir stehen. Und du wirst von einer Aura des Lichts umgeben sein.
Dann werden wir uns vereinigen.
Ich liebe dich.
JacquesÜber die amourösen Geständnisse ging Mark lieber rasch hinweg. Was meinte Reverdi mit der in Aussicht gestellten Vereinigung mit Elisabeth? Auch über die neu in die Spurensuche eingeführten Begriffe – »Farbe der Wahrheit«, »Farbe der Lüge« – wollte er nicht nachdenken. Der übliche esoterische Schwachsinn, sagte er sich.
Er musste sich ganz einfach an die Regeln halten. Er öffnete den ersten Anhang, ein Word-Dokument.
Wo immer in Phuket du bist, begib dich zur Mitte der Insel und fahre auf der 402 in Richtung Flughafen. Auf diesem Weg gelangst du zum Bangkok Phuket Hospital.
Dort gibt es in der Notaufnahme eine Anlaufstelle für Prostituierte und Süchtige, die außer kostenloser ärztlicher Versorgung allerlei Vorbeugungs- und Verhütungsmittel bekommen – Kondome, aber auch Einwegspritzen. Beschaff dir eine vakuumverschweißte Spritze. Dann öffne das zweite angehängte Dokument.
Mark gefror das Blut in den Adern. Das Bild der Spritze beschwor natürlich den Gedanken an eine Injektion herauf- oder an eine Entnahme. Wovon? Bei wem? Die Zahl der Antworten war nicht unbegrenzt: Jacques Reverdi führte ihn zu einem seiner Opfer. Vielleicht war die Entnahme an einer Leiche durchzuführen.
Im Grunde wunderte sich Mark nicht über diese Entwicklung. Er hatte immer geahnt, worauf es hinauslief: Seine Initiation musste sich zwangsläufig in einem Heiligtum des Mörders vollenden. Reverdi hatte zahlreiche Morde begangen. Wo waren die Leichen? Wie verbarg er sie? Die Antwort stand am Ende der angehängten Dokumente, die er jetzt auf seiner Festplatte hatte. Einen Moment lang war er versucht, sie alle auf einmal zu öffnen – es waren insgesamt sieben –, beherrschte