Das schwarze Blut
anlegen. Sobald die Insel in Sichtweite ist, öffnest du noch auf dem Schiff das nächste Dokument. Darin findest du die letzten Anweisungen. Ich schreibe diese Zeilen mit zitternder Hand, meine Geliebte, denn ich stelle mir vor, wie du sie liest. Bedeutet es doch, dass du nur noch wenige Kilometer von DER WAHRHEIT entfernt bist.
Meine Lise, über die Menschen, den äußeren Schein und die Lügen hinweg reiche ich dir die Hand. Jenseits von Mittelmaß und Vernunft habe ich dich gefunden. Jetzt ist es an dir, mich zu finden.
Mark schloss behutsam den Deckel des Computers. Auffällig war, dass Reverdi im Eifer der Leidenschaft auf den Gebrauch der dritten Person verzichtete. Die Masken fielen. Die Zeit der Zurückhaltung und Vorsicht war vorbei.
Er ließ den Motor wieder an und machte sich auf den Weg zur Insel.
KAPITEL 62
Als er zur Anlegestelle kam, braute sich ein Sturm zusammen, und Mark musste lächeln. Es fügte sich alles vortrefflich: Das in Koh Surin verpasste Stelldichein mit dem Monsun sollte also heute stattfinden, da die entscheidende Etappe anstand.
Während er den Wagen abstellte, begann es zu regnen: nicht die erwartete Sintflut, sondern die ersten Vorboten, kurze Schauer – » rain pockets «, wie die Asiaten sie nennen.
Der Pier bot einen elenden Anblick. Er sah aus wie ein Schiffsfriedhof entlang einem Meeresarm: überall trockengelegte Boote, Rostlauben, die, zerfressen von Salz und Seetang, halb versunken im dunklen Schlamm festsaßen. Gegenüber ragten ein paar blinde Baracken auf Holzpfählen, hoch wie Fabrikschlote, aus der Mangrove. Und nirgendwo eine Menschenseele.
Nach einer Weile aber entdeckte er einen Fischer mit kohlrabenschwarzem Gesicht, der in seinem Boot saß und Netze flickte. Mark sagte mehrmals »Koh Rawa-Ta«, bis der Fischer verstand und dreitausend Baht für die Überfahrt forderte. Mark feilschte ein bisschen, der Form halber. Am meisten interessierte ihn, wie lang es dauern würde. Er wies auf seine Uhr, die halb sechs zeigte. Der Fischer bedeutete ihm auf dem Zifferblatt, dass sie um sechs Uhr auf der Insel wären. Dann war es praktisch Nacht. Es bliebe ihm also nur eine halbe Stunde, um die letzte Spur zu entdecken.
Aber er konnte nicht länger warten – sich noch eine weitere Nacht gedulden zu müssen hielte er nicht aus. Er lief zum Wagen zurück, um einen Regenumhang, die Taschenlampe und seinen Computer zu holen – und die Spritze. Der Fischer half ihm an Bord und steckte zweitausend Baht ein. Mark nahm im Bug Platz. Es war ein für die Gegend typisches Boot, sehr schmal, mit einem Außenbordmotor an einem langen Schaft, an dessen Ende sich die Schraube drehte.
Der Fischer steuerte das Boot durch das Labyrinth der Sümpfe, bis sie das Mündungsdelta erreichten. Das Wasser war schwarz, wie infiziert vom dräuenden Sturm. Jeder Wirbel, jede Stromschnelle war zähflüssig wie Öl. Als sie die Sümpfe hinter sich gelassen hatten, rollten Wellen auf sie zu, und das Wasser nahm eine bräunlich-gelbe, wie eisenhaltige Färbung an. Mark hatte das Gefühl, in die Tiefen der Urgeschichte einzutauchen, in die Bronze-, die Eisenzeit …Der Horizont erschien ihm wie ein bleiernes Band: straff gespannt und anthrazitgrau. Der Monsun schien dort zu einem steinharten, kompakten Streifen zusammengepresst. Am Himmel ballten sich Wolken von der Farbe geronnenen Blutes, durchzuckt von Blitzen. Hier und dort verdüsterten Regenwände die dramatische Szenerie.
Unter dem wasserdichten Umhang drückte Mark seine Ausrüstung fest an sich. Rund um das Boot wurde das Meer auf einmal wieder indigoblau. Er drehte sich nach dem Fischer um, der ihm, während er im Heck stehend wie ein Gondoliere das Boot manövrierte, mit dem Kinn eine Richtung wies. Mark folgte seinem Blick. Rechter Hand ragten nun ein paar einsame Inseln aus der aufgewühlten See.
Von dichtem Urwald bewachsen, glichen sie Smaragden, die auf der Wasseroberfläche trieben. Der Fischer deutete mit dem Zeigefinger: Koh Rawa-Ta lag in der Mitte. Wie zur Bestätigung fuhr im selben Moment genau über der Insel ein Blitz herab und beleuchtete die grüne Kuppel mit seinem grellweißen Licht.
Sie waren fast zwanzig Minuten unterwegs. Mark erkannte jetzt Einzelheiten: graue Felswände, von Lianen überwucherte Bäume, ein Saum aus weißer Gischt, der die Grenze zwischen Meer und Land markierte. Zweihundert Meter vor der Küste stellte der Fischer seinen Motor ab. Weiter ging es nicht, in Ufernähe war das Wasser zu seicht.
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