Das schwarze Blut
geschrien. »Wenn er im Sainte-Anne aufwacht«, fuhr sie in ruhigerem Ton fort, »wird sich sein Zustand sicher verschlimmern. Er war bis vor kurzem in der Salpêtrière. Ich kann Ihnen die Namen der behandelnden Ärzte nennen. Es ist auch ein Psychiater darunter.«
Der Arzt seufzte und zog sein Mobiltelefon hervor. »Na gut. Ich frage nach, ob sie ein Bett frei haben.«Dreiundzwanzig Uhr.
Khadidscha war jetzt allein. Sie war weder hungrig noch müde. In ihrem Kopf herrschte vollkommene Leere, nichts, was irgendwo auf ein Echo stieß. Sie beschloss zu packen.
Aber zuvor wollte sie noch Ordnung schaffen.
Sie öffnete die Fenster, um den männlichen Geruch zu verbannen, schob die Möbel an Ort und Stelle und räumte Marks Schreibtisch auf – stapelte seine Notizzettel und die ausgedruckten Seiten, rückte die Tastatur zurecht.
Dabei stieß sie an die Maus. Die Geste genügte, um den Bildschirm, der im Stand-by-Modus gewesen war, wieder in Gang zu setzen.
Das Atelier begann sich um sie zu drehen.
Mark hatte eine Mail erhalten.
Das war der Auslöser seiner jüngsten Krise gewesen. Auf dem Bildschirm las sie:
» Es ist noch nicht alles vorbei .«
KAPITEL 89
»Eine Riesenscheiße.«Khadidscha blickte auf die Leuchtziffern des Weckers. Zwei Uhr morgens. Sie hatte eben das Licht ausgeschaltet. Nach ihrer Entdeckung hatte sie Capitaine Michel angerufen und ihn zurückbeordert; er war auch sofort gekommen. Sie hatte ihm die Nachricht gezeigt, woraufhin er und seine Leute Marks Computer eingepackt hatten. Die Aktion hatte keine dreißig Minuten gedauert. Und jetzt rief er sie schon wieder an.
»Was für eine Riesenscheiße«, wiederholte er.
Mit einer Geste, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, wollte sie ihre Locken zurückwerfen – als ihr aufging, dass sie keine mehr hatte. Sie konzentrierte sich auf das dunkle Parkett.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Wir haben den Computer und den Anschluss identifiziert, von dem die Nachricht geschickt wurde.«
Sie verspürte einen dumpfen Schmerz im Kreuz.
»Woher kam sie? Wo ist Reverdi?«
Der Polizist zögerte.
»Jetzt sagen Sie schon: Von wo hat er die Mail geschickt?«
»Aus dem Atelier.«
Eine Kälte legte sich über ihr Gesicht wie ein Schleier aus»Er hat den Anschluss benutzt, den Sie vor kurzem haben legen lassen. Ihr Modem. Unsere Experten sind sich absolut sicher. Der Absender der Nachricht hat ihren Computer benutzt. Und Ihre Mailbox. Braucht es dafür ein Passwort?«»Nein.«
»Waren Sie um fünfzehn Uhr zehn zu Hause?«
Sie sei den ganzen Tag im Fotostudio gewesen, erklärteKhadidscha, doch ihre Stimme schien ihr unendlich weit fort. Ihre Glieder wurden bleischwer, und in ihrem Bauch fühlte sie ein Flattern.
»Das ist Reverdi, kein Zweifel«, sagte der Polizist. »Das ist ganz sein Stil: die reine Provokation. Er will Ihnen beweisen, dass er ohne weiteres imstande ist, bei Ihnen einzudringen. Ich habe Leute geschickt, die Ihren Eingang bewachen werden. Sie müssen jeden Moment eintreffen. Es kommen auch ein paar Techniker, denn wir müssen eine Fangschaltung legen, um etwaige Anrufe zurückverfolgen zu können. Jetzt gleich.«Sie tastete nach dem Schalter der Lampe neben ihrem Bett. Als das Licht aufleuchtete, war sie fast überrascht, das Atelier unverändert vorzufinden; alles war, wie es sein sollte. Solide, vertraut, lag die Realität vor ihr.
»Soll ich auch kommen?«Der Tonfall, in dem er seine Frage gestellt hatte, war ernst und liebevoll zugleich gewesen und ließ sie an seinen ramponiertenkleinen Blumenstrauß denken. Absichtlich grausam zwang sie ihn, seine Frage zu wiederholen:
»Wie bitte?«
»Soll ich kommen? Ich meine … persönlich?«
»Nein, nicht nötig.«Sie hatte sich geschworen, keine Angst mehr zu haben. Ein uralter Schwur. Aus ihrer frühen Jugend.
Sie stand auf, schlüpfte in eine Jeans und verließ dasspartanische Lager, das ihr als Bett diente – eine schlichte Matratze auf dem Boden neben der Küchentheke. Eifrig machte sie sich zu schaffen, räumte Gegenstände hierhin und dorthin, und wenn sie einmal innehielt, drangen aus allen Ecken des Raums die verschiedensten Geräusche und nahmen eine unheilvolle Bedeutung an.
Jacques Reverdi war hier gewesen.
Auf einmal erstarrte sie: Was, wenn er immer noch da war?
Bei dem Gedanken war ihr, als polterte ihr Herz die Rippen entlang abwärts in die Tiefe. Sie begann systematisch das Atelier zu durchsuchen, wobei sie so viel Lärm wie möglich machte – wie sie einst als Kind, wenn
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