Das schwarze Blut
groteske Leben noch ertragen? Der Rechtfertigung halber sagte sie sich, dass es auch für sie eine Therapie sei: Indem sie sich fotografieren ließ, ihre Narben öffentlich zur Schau stellte, heilte sie ihre inneren Verletzungen.
Reverdi war tot – und sie lebte.
Er lag auf dem Grund des Flusses – und sie schwebte hochüber der Stadt.
Das war die äußere Fassade, das schön dekorierte Schaufenster. Eine Etage tiefer, in den Nischen ihrer Seele, sahes anders aus: Dort war es vor allem der verzweifelte Versuch, ihre Angst zu bezwingen – die dumpfe Gewissheit, dass Jacques Reverdi durchaus nicht tot war. Dass er sich irgendwo herumtrieb. Verwundet. Hasserfüllt. Entschlossen. Und wenn er noch immer auf dieser Welt war, konnte er auch auf allen Plakatwänden die neuesten Fotos von Khadidscha sehen: lebendig. Und aufrecht.
Sie legte ihren Schlüsselbund in die Bronzeschale, die zu diesem Zweck in der Nähe der Tür stand, und bestärkte sich in dem Entschluss, den sie an diesem Tag gefasst hatte: Sie musste Mark verlassen. Zu zweit kämen sie niemals darüber hinweg. Solange die Leiche nicht gefunden war, standen sie gemeinsam am Rand des Abgrunds und klammerten sich reflexhaft aneinander. Und wenn der eine fiel, musste er den anderen mit in die Tiefe reißen.
An diesem Abend würde sie ihm ihren Entschluss mitteilen, das stand fest.
Sie hörte schon jetzt sein Schweigen, spürte seine stumme Unzugänglichkeit.
»Mark?«
Keine Antwort.
Resolut ging sie weiter in den Raum hinein und rief noch einmal: »Mark?«
Dann sah sie ihn – neben seinem Schreibtisch auf dem Boden. Khadidscha stürzte zu ihm hin. Sein Körper war hart wie Holz. Sie vermutete Leichenstarre, doch seine Haut fühlte sich lauwarm an. Sie tastete nach der Halsschlagader und fühlte einen Puls – sehr schwach, sehr langsam.
Tot war er nicht.
Sie hastete zum Telefon. Automatisch wählten ihre Finger die Nummer des Notrufs – diese Nummer, die sie so oft angerufen hatte, wenn sie ihre Mutter, ihren Vater wieder halb tot in der Wohnung gefunden hatte.
Während sie mit dem Bereitschaftsdienst sprach, sah sie schon die Fortsetzung vor sich: das Eintreffen des Notarztwagens, die hektischen Sanitäter, ihre schweren, hallenden Schritte. Dieser Einbruch des Chaos, der die gesamte Existenz durcheinander brachte, das Leben aus den Angeln hob, das Haus auf den Kopf stellte … Diese Mischung aus Panik und Rettung in letzter Sekunde, die ihre gesamte Kindheit und Jugend bestimmt hatte.
Als sie den Hörer auflegte, fiel ihr auf, dass sie noch in der Aufmachung für die letzten Aufnahmen steckte: Wildlederstiefel und Pelzjacke – organische, brutale Materialien, die nicht ohne Blut und Tod zu haben waren. In diesem Winter waren sie der letzte Schrei. Überaus passend für die Umstände, fand sie und fühlte sich darin irgendwie stärker, wilder.
Sie kehrte zu Mark zurück, der sich nach wie vor nicht rührte, und betrachtete den rotblonden, zwischen die Schultern gezogenen Kopf, unter den sie ein Kissen geschoben hatte. Ein vollkommen hoffnungsloser Fall, eindeutig.
Ihr Entschluss stand jetzt definitiv fest.
Sie würde seine Aufnahme ins Krankenhaus überwachen, die Bude räumen – und sich schleunigst aus dem Staub machen.
»Die volle Hysterieattacke, würde ich sagen.«Der Notarzt, ein stämmiges Mannsbild mit mächtigem, struppigem Kopf, hatte seinen Parka nicht ausgezogen und sah überhaupt aus, als hätte er in den Kleidern geschlafen. Khadidscha hatte ihm einen Kaffee angeboten, ihm und Capitaine Michel, dem goldenen Polizisten aus dem Krankenhaus, der zu Hilfe gekommen war. Zwei Sanitäter legten Mark, in eine glitzernde Rettungsdecke gewickelt, auf eine Trage und nahmen ihn mit.
»Hysterie?«, wiederholte sie ungläubig.
Der Arzt kippte seinen Kaffee hinunter, siedend heiß, wie er war.
»Ihr Mann weist alle klinischen Anzeichen der Katatonie auf. Aber keines der neurologischen Merkmale. Es ist alles in seinem Kopf. Das ist im Prinzip eine positive Nachricht. Er wird es überleben, keine Frage. Morgen, spätestens übermorgen ist er wieder auf den Beinen. Wir bringen ihn ins Sainte-Anne-Spital. Sein Fall wird unsere Freunde von der Psychiatrie freuen.«»Nein. Auf keinen Fall dorthin.«
»Wieso nicht?«
»Verstehen Sie«, versuchte Khadidscha zu erklären. »Markhatte schon früher … psychiatrische Probleme.«
»Was Sie nicht sagen!«, sagte der Arzt grinsend und reichte ihr die leere Tasse zurück.
»Hören Sie, bitte!« Sie hatte beinahe
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