Das schwarze Blut
kleine Löcher über der Oberlippe, sechs unter der Unterlippe. Sie säumten ihren Mund wie eine Hennabemalung.
»In punkto Konflikte«, antwortete sie, »ist Mark auf seine Kosten gekommen, meine ich.«
»Eben.« Der Arzt schnellte in die Höhe. »Eben …«
Während er seinen Schreibtisch umrundete, zündete er seine Pfeife an.
»Er kommt mit dieser ganzen Gewalt nicht zurecht. Seine Psyche weigert sich, sie zu verarbeiten. Verdrängung!« Er stieß den Pfeifenstiel in die Luft. »Pffffttt! Früher hat ihm das Koma dabei geholfen: Ausblendung. Totale Schwärze. Nichts mehr wissen. Heute schläft er stattdessen den ganzen Tag. Auch diesmal flüchtet sich sein Geist in die Bewusstlosigkeit. Sein Überich …«
Khadidscha fiel ihm ins Wort: »Aber was fehlt ihm denn nun?«
Der Arzt lächelte, als hätte er auf diese Frage gewartet:
»Nichts. Keine Psychose. Keine neurologische Störung. Man könnte sagen, er leidet an der Wirklichkeit.«
»Was soll das heißen?«
»Seine Psyche ist leider nicht auf der Höhe der Ereignisse. Zugegeben: außergewöhnlich brutaler Ereignisse, sicher.«
»Sicher.«
»Folgendes geschieht momentan«, sagte er und breitete die Arme aus. »Der Prozess kehrt sich um. Es ist alles zu viel für ihn gewesen. Reverdis Angriff hat seine mentalen Schutzmauern, seine innere Abwehr zum Einsturz gebracht. Jetzt ist er nicht mehr in der Lage, die Gewalt auf Distanz zu halten.«
»Und was bedeutet das konkret?«
Der Arzt richtete den Pfeifenstiel auf seine Schläfe: »Die Gewalt ist ihm ins Hirn eingedrungen. Sie breitet sich überall aus. Er kann an nichts anderes mehr denken. So wie manche Tiere Infrarot sehen können, aber kein normales Licht, kann Dupeyrat den gewöhnlichen Alltag nicht mehr wahrnehmen. Er spürt die einfachen, normalen Empfindungen nicht mehr – er erkennt sie nicht. Er ist vollkommen erfüllt, durchdrungen von Reverdi und seiner Grausamkeit.«
Nachdem sie sich eingehört hatte, kam ihr der Akzent des Psychiaters eher italienisch vor. Vor Jahren hatte Khadidscha eine Seminararbeit über die Neue Psychiatrie in Italien, die Schule von Franco Basaglia in den sechziger Jahren geschrieben:
»Die Auflösung der Irrenhäuser« hieß sein berühmtes Werk. Dieser Arzt gehörte offenbar zu seinen Anhängern.
»Ich kann es nur wiederholen«, sagte er, »es gibt keine Geisteskrankheiten, nur ungelöste Konflikte …«
»Ich warne Sie, wenn Sie versuchen, ihn stationär …«
»Sie haben mich nicht verstanden. Dupeyrat braucht genau das Gegenteil: normalen Alltag. Das ist die einzig mögliche Therapie für ihn. Morgen wird er entlassen.«Als Mark nach Hause kam, erwartete ihn Khadidscha.
Mit seinem Einverständnis hatte sie sich sein Atelier vorgenommen. Bis in die Nacht hinein hatte sie aufgeräumt, gesaugt, gewischt, poliert. Dabei hatte sie eine Art Abstellkammer entdeckt, ein kleines zusätzliches Zimmer im Souterrain, in dem Mark seine Fachliteratur und seine »Dossiers« aufbewahrte, und hatte nicht widerstehen können: Nach getaner Arbeit hatte sie sich in sein Archiv vertieft. Sie hatte den Eindruck, in Marks Gehirn einzudringen: Morde, Vergewaltigungen, vergossenes Blut Unschuldiger, über Jahrzehnte hinweg. Zeugenaussagen, Biografien, psychologische Studien – alles war sorgfältigst geordnet, klassifiziert, mit Querverweisen und kurzen Inhaltsangaben versehen. Eine Taxonomie der menschlichen Grausamkeit.
Dabei war sie natürlich auf das Dossier Reverdi gestoßen. Sie hatte die Briefe, die Presseartikel gelesen, hatte sich die Fotos angesehen. Erst jetzt wurde ihr das Ausmaß der Falle klar, die Mark ihm gestellt hatte: Das ging über jeglichen journalistischen Eifer weit hinaus. Mark war in seiner Intrige vollkommen aufgegangen.
Sie hatte auch die Kopien der handgeschriebenen Briefe von Elisabeth gelesen und sich eingestanden: Ja, eindeutig, der Typ war verrückt. Pervers. Ein Irrer. Doch auch jetzt billigte sie ihm mildernde Umstände zu. Bis zum Morgengrauen hatte sie nach einem »Dossier Sophie« gesucht, aber nichts gefunden. Nichts: kein Foto, keine Zeile über den Mord an der »Frau seines Lebens«. Um fünf Uhr morgens hatte sie die Tür der Abstellkammer hinter sich geschlossen, wie man einen Schlussstrich zieht.
Als Mark sein Loft betrat, war alles bereit. Makellos. Er lächelte, dankte ihr und bereitete sich einen Kaffee mit der chromblitzenden Maschine, die sie nicht anzurühren gewagt hatte. Dann stellte er sich, die Tasse in der Hand, vor die Fenstertür, die auf
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