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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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riesigen Bienenstock einzudringen, es fehlte nur das Summen der Insekten. Der Honiggeruch des Wachses hüllte alles wie ein Duftharz ein. Selbst die Kerzenflämmchen glichen flüssigem, schwerelos gewordenem Honig, der zur hellen Decke emporstrebte.
    Mit herabgesunkenem Kopf saß der Polizist da. Golden lag der Kerzenschein auf seinen glatten Haaren, wo er sich zu den Farbtönen einer Ikone mischte. Auch der kupfern schimmernde Oberkörper passte ins Bild. Das Kerzenlicht verlieh dem Blut auf seiner Brust eine eigenartige goldbraune Färbung.
    »Das ist irrsinnig«, sagte Lieutenant Solin leise zu ihr, während die Leute von der Spurensicherung in weißen Schutzanzügen noch mit der Entnahme von Proben beschäftigt waren.
    »Der Mörder hat ihm den Hals aufgeschnitten. Der Gerichtsarzt meint, er hat ihm zuerst den Mund mit Paketband verklebt und anschließend die Kehle aufgeschlitzt. Und die Wunde gleich wieder verschlossen. Mit einem speziellen Wachs, wie es aussieht. Dann hat er ihm mit demselben Wachs die Nasenlöcher verstopft. Michel konnte nicht mehr atmen. Weil er sich aufbäumte, während er nach Luft rang, platzte die Wunde wieder auf: Je verzweifelter er zu atmen versuchte, desto stärker wurde die Blutung. Anscheinend hat der Mörder zugesehen, wie er ausblutete.«Khadidscha senkte unwillkürlich den Blick: In einem Radius von gut einem Meter breitete sich die Blutlache rund um den Stuhl aus. Sie wunderte sich, wie sie so ruhig sein konnte. Vielleicht lag es an der Inszenierung, der Unwirklichkeit dieses Anblicks. Sie meinte in diesem rosig-goldenen Theater zu schweben. Und ihr Verstand weigerte sich, die neuen Umstände zur Kenntnis zu nehmen, sich der Erkenntnis zu beugen, dass sie allein war. Vollkommen allein im Angesicht eines Mörders. Der einzige Polizist, der ihr Vertrauen eingeflößt hatte, war tot. Und Mark war in irgendeinem Zwischenreich, weder tot noch lebendig.
    »Haben Sie eine Inschrift gefunden?«
»Nein.«
»Sind die Fenster und Türen abgedichtet?«
»Nein. Dafür hatte er keine Zeit. Es ist sowieso unvorstellbar,wie es ihm gelingen konnte, Michel auf diesen Stuhl zu zwingen. Michel hat zwar ausgesehen wie ein Engel, aber es war nicht gut Kirschen essen mit ihm …«Solin unterdrückte ein Schluchzen. Gesicht, Stimme, Gebaren dieses Mannes waren vollkommen unauffällig. In seinem Beruf war das sicher von Vorteil, doch auf der Straße hätte ihnKhadidscha nie und nimmer wieder erkannt.
»Das Verrückteste ist«, sagte er, nachdem er sich geschnäuzt hatte, »dass die Nachbarn überhaupt nichts gehört haben.
Vielleicht hat ihn der Mörder unter Drogen gesetzt. Das werdenwir nach der Laboranalyse wissen. Jedenfalls ist das genau Reverdis Handschrift. Der Dreckskerl lebt.«Khadidscha rührte sich nicht. Von den Spitzen ihrer Finger und Zehen kroch eine Grabeskälte auf die Mitte ihres Körpers zu. Sie ging ein paar Schritte, um die Starre abzuschütteln. Sie sah den Beamten zu, die fotografierten, vorsichtig die Kerzen ausbliesen, die Wachsbarren in Plastiktüten schoben.
    »Dieses Wachs ist eine Spur«, sagte Solin. »So was findet man nicht an jeder Hausecke. Wir müssen bei den Imkern nachfragen …«»Ich hab eine Bitte«, fiel sie ihm ins Wort.
»Was?«
»Lassen Sie mich Mark Dupeyrat informieren.«»Was soll das?«
»Ich packe. Ich haue ab.«
Mark stand in seinem Krankenhauszimmer und verstaute seineSachen in einer Tasche. Zwei Stunden zuvor war er aus seinem »leichten Koma« erwacht.
»Ich weiß Bescheid.«
»Woher?«
Mit einer knappen Kopfbewegung deutete er zur Tür. »Draußen reden sie von nichts anderem.«
»Ich …«
Mark stürzte sich auf sie und packte sie an den Schultern: »Ich hab’s euch doch gesagt, oder?«, rief er wild. »Ich hab’s euch allen gesagt«, wiederholte er, in gedämpfterem Ton. »Du lieber Gott, Reverdi lebt. Wir werden alle dran glauben müssen.«
»Du kannst nicht raus«, sagte sie schwach und befreite sich aus seiner Umklammerung.
»Wer soll mich abhalten.«
»Wo willst du denn hin?«
»Ins Ausland.«
»Ins Ausland? Aber … aber die Ärzte werden es dir nicht erlauben.«
»Die Klinik braucht das Bett – und ich hab heute Morgen mit dem Psychiater gesprochen. Kein Problem. Er meint, ich leide an der Realität. Ich muss mich endlich auf die normale Welt einlassen. Also heißt es, keine Zeit zu verlieren!«
Khadidscha spielte eine andere Karte aus: »Aber die Polizei wird doch wohl nicht zulassen, dass du außer Landes gehst. Du bist ein wichtiger

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