Das schwarze Blut
Namen sie den unterschiedlichen Farbschattierungen gegeben hatte, ihre Vergleiche mit Gemälden … Sie hatte ihn in subtile Erregung versetzt. Diese Bilder sprachen alle seine Sinne an, und tatsächlich hatte er sich mehrfach befriedigt, während er wieder und wieder ihre bezaubernden Worte las.
»He, ich rede mit dir!«
Jacques richtete sich auf. Gupta war aufgestanden und hatte seinen Mundschutz wieder angelegt.
»Du fängst morgen an«, sagte er gedämpft. »Um den Papierkram kümmere ich mich. Es braucht so oder so mehr Leute hier, SARS hin oder her.«
Reverdi erhob sich ebenfalls. In dem Moment entdeckte er, wonach er, ohne es zu wissen, gesucht hatte, seitdem er in diesem Büro war: eine Telefonbuchse.
Er lächelte.
Der Glücksfall, auf den er gewartet hatte, war eingetreten.
»Ich bin froh, mich nützlich machen zu können«, murmelte er.
KAPITEL 27
Eine Woche später hatte er Elisabeth noch immer nicht geantwortet. Zuerst brauchte er die Bestätigung gewisser Umstände. Sein Plan erforderte Vorbereitungen – und er wollte alles geregelt haben, bevor er ihr seine Anweisungen gab.
Vierzehn Uhr.
Er ging zur Krankenstation hinüber.
Am Vortag waren die Ergebnisse der Blutuntersuchungen eingetroffen: allesamt negativ. Keine einzige SARS-Infektion im Gefängnis. Reverdi hegte sofort die Befürchtung, man könnte ihm seinen Posten auf der Krankenstation wieder entziehen, doch Gupta hatte der Direktion klar machen können, dass er die Nummer 243-554 benötigte. Reverdi erfreute sich jetzt einer unerhörten Bewegungsfreiheit – es war, als hätte man ihn in der allgemeinen Panik vor einer Epidemie vergessen. Sogar Raman ließ die Zügel schleifen.
Die Arbeit auf der Krankenstation war widerlich, aber er beklagte sich nicht. Nach einer Woche wusste er, worum es hier ging. Die Hauptfront war der Kampf gegen Infektionen: eitrige Schwären, nässende Beulen, galoppierender Wundbrand. Auch Ekzeme, Entzündungen und Allergien blühten in der Hitze auf. Die Häftlinge kratzten sich bis aufs Blut und schwollen zusehends an. Die üblichen Unfallopfer – Sturzverletzungen und offene Brüche aller Art – waren ebenso an der Tagesordnung wie Ruhr, Beriberi, Sumpffieber, Tuberkulose …Fünf Unfälle hatte er bereits miterlebt: einen Selbstmordversuch mit einem Rasiermesser, eine Prügelei mit mehreren Verletzten, einen rätselhaften Sturz im Treppenhaus, einen noch rätselhafteren Sturz in einen heißen Suppentopf, und schließlich einen Irren, der sich umzubringen versucht hatte, indem er die eigene Scheiße fraß. Routine.
Das eigentliche Geschäft aber spielte sich auf einer anderen Ebene ab. Trotz Guptas Bemühungen um eine gerechte Medizin war die Krankenstation vorrangig ein Umschlagplatz für illegale Geschäfte unter der Oberaufsicht von Raman. Jeder Patient musste ein Eintrittsgeld entrichten und obendrein für seine medizinische Versorgung bezahlen. Dazu kam der fortgesetzte Handel mit Tranquilizern und anderen Medikamenten. Reverdi kam dabei selbst auf seine Kosten: Er hätte sich keinen besseren Platz vorstellen können, um seine Medikamente weiterzuverkaufen und seine Kundschaft zu pflegen: Fünfzig Prozent der Knastinsassen, die sich in der Krankenstation versorgen ließen, kamen wegen schwerer Entzugserscheinungen.
Wenige Meter vor der Krankenstation rief ihn jemand an. Jacques kannte die Stimme und drehte sich misstrauisch um. Es war Raman.
»Komm her.«
Jacques gehorchte, hielt sich aber außerhalb der Reichweite des Schlagstocks.
»Wir müssen reden, du und ich«, zischte der Wächter aufMalaiisch, während er sich argwöhnisch umsah.
»Worüber, Chef?«
»Über deinen neuen Job.«
Reverdi zuckte mit keiner Wimper, während er Ramansschwarzes Gesicht beobachtete – ein Meteorit aus einer teuflischen Galaxie. Es war ihm durchaus klar, worüber der Kerl reden wollte: über die Aufteilung der Gewinne aus den illegalen Verkäufen in der Krankenstation, insbesondere der ihm selbst verordneten Medikamente. Doch er mimte den Ahnungslosen:
»Dafür ist wohl eher Dr. Gupta zuständig, nicht?«Raman starrte ihn eine Weile unbewegt an und fing dann, völlig unerwartet, zu grinsen an. So war das immer, es war etwas Hinterhältiges an seinem Gesicht, das immer auf der Lauer lag und sein Gegenüber mit einem abrupten Mienenwechsel überrumpelte.
»Spielst du den Idioten? Wie du meinst. Ich hab noch was für dich. Weißt du, warum immer ein Chirurg dabei ist, wenn einer aufgehängt wird?«Reverdis Muskeln
Weitere Kostenlose Bücher