Das schwarze Blut
spannten sich an.
»Nein, Chef.«
»Weil man ihn wieder zusammenflicken muss. DenGehenkten.« Zur Veranschaulichung fasste sich Raman an die Gurgel.
»Das Seil zerreißt dir den Hals. Das verstößt hoffentlich nicht gegen deine Religion?«
Reverdi schwieg eine Zeit; dann setzte er plötzlich, wie um Raman nachzuäffen, ein böses Lächeln auf:
»Lieber tot zusammengeflickt als lebendig.«
Er zwinkerte ihm zu. Raman sah ihn unschlüssig an. Endlich sagte er: »Dein Anwalt ist da. Im Besuchsraum.«Jimmy erwartete ihn in seiner gewohnten Haltung, vor sich auf dem Tisch einen dampfenden Kaffee. Jacques starrte auf den weißen Pappbecher. Nachdem der Wärter ihn am Boden festgekettet hatte, begann der Anwalt mit seiner üblichen Einleitung, doch Reverdi fiel ihm jäh ins Wort:
»Ist der Kaffee gut?«Jimmy zögerte. Er warf einen raschen Blick zum Wärter hinüber. »Ausgezeichnet«, sagte er dann.
»Besser als sonst?«
Jimmy nickte. Sein wächsernes Gesicht glänzte vor Schweiß. Jacques streckte die Hand aus:
»Darf ich kosten?«
Der andere nickte wieder. Reverdi warf ebenfalls einen Blick zum Wärter, der in der Hitze döste. Er ergriff den Becher und setzte sich so, dass er vor fremden Blicken geschützt war. Dann tauchte er die Finger in den heißen Kaffee und fischte ein kleines, in Plastik verschweißtes Elektronikteil heraus.
Ein winziges silbrig glitzerndes Ding, flach wie ein Taschenrechner.
Er lächelte.
Jetzt konnte er Elisabeth schreiben.
KAPITEL 28
Kanara, den 1. Mai 2003Verzeih mein Schweigen: Ich musste erst gewisse Vorbereitungen im Hinblick auf unsere neue Beziehung treffen. Außerdem arbeite ich jetzt auf der Krankenstation der Strafanstalt, was viel Zeit und Kraft verschlingt. Deinen letzten Brief habe ich mit großer Aufmerksamkeit gelesen, und deine Antworten haben mich überaus gefreut. Nein, es ist mehr: Ich bin hingerissen von deiner Ausdrucksweise, von deiner Art, Details zu beschreiben, die für dich zu den intimsten Erlebnissen zählen und die mir so am Herzen liegen.
Vor allem aber habe ich dein Gesicht entdeckt, und ich muss gestehen, dass ich fasziniert bin. Nie und nimmer hätte ich hinter der plumpen Dreistigkeit deines ersten Briefes ein solches Gesicht vermutet!
Elisabeth, ich glaube Gesichtern, wie man Landkarten glaubt. Man kann aus ihnen die Beschaffenheit der Böden, die Atmosphäre der unterschiedlichen Gegenden, die Dschungel der Seele herauslesen … Gesichter bergen die innere Wirklichkeit des Menschen. In deinen Zügen habe ich eine Intelligenz und einen Erkenntnisdrang erkannt, derentwegen wir vielleicht einen sehr weiten Weg miteinander werden gehen können. Jetzt bin also ich an der Reihe, dir zu antworten. Vorweg lass dir sagen: Ich brauche deine Fragen nicht, ich weiß, was dich interessiert, weiß, was du erhoffst. Doch muss ich dich enttäuschen: Solche Wahrheiten lassen sich nicht erzählen. Es sind zu starke, zu reiche Erfahrungen, die das ganze Wesen durchdringen. Es widerstrebt mir, mich schriftlich darüber zu äußern. Es wäre eine Schande, nach armseligen Worten und unzulänglichen Erklärungen dafür zu suchen. Wenn du meine Geschichte begreifen willst, Elisabeth, musst du denselben Weg gehen, den ich gegangen bin. Im wörtlichen Sinn.
In Südostasien, zwischen dem Wendekreis des Krebses und dem Äquator, verläuft noch eine dritte Linie. Eine schwarze Linie, gesäumt von Leichen und von Grauen. Du kannst ihr folgen, falls du bereit bist, dich aus der Ferne von meinen Anweisungen führen zu lassen. Interessiert es dich? Natürlich interessiert es dich. Ich stelle mir vor, wie mein Angebot deine schwarzen Augen funkeln, deine honigfarbenen Lippen beben macht. Wenn du bereit bist, diese Reise zu unternehmen, wirst du begreifen, was auf meinem Weg tatsächlich geschehen ist. Deine Route wird nicht einfach sein. Es gibt nicht viele Wegweiser. Und hoffe nicht auf allzu explizite Anleitungen von mir. Du wirst die Ereignisse selbst erraten, wirst am eigenen Leib das Räderwerk der Geschichte, die Ursachen und Wirkungen der schwarzen Linie erfahren müssen. Nach jeder Etappe wirst du mir deine Erkenntnisse beschreiben. Du wirst mir genau schildern, was du entdeckt, was du verstanden, was du gefühlt hast. Wenn du auf dem richtigen Weg bist, werde ich dir die nötigen Hinweise für den nächsten Abschnitt geben.
Solltest du dich irren, wird es keinen zweiten Versuch geben. Dann schließe ich mich wieder in mein Schweigen ein. Noch etwas musst du dir klar machen, etwas
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